Judith Hermann: Daheim (S. Fischer)

Rezension von Julia Hartel

Judith Hermann: „Daheim“

Der Preis der Freiheit

So viel vorweg

Nachdem ich in den letzten Wochen lektüretechnisch gleich zweimal kräftig danebengegriffen hatte (die zugehörigen Unmutsäußerungen befinden sich am Ende dieses Beitrags), wollte ich beim nächsten Versuch auf Nummer sicher gehen. Deshalb entschied ich mich für einen Titel, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und bereits viel Lob bekommen hat: Daheim von Judith Hermann. Dass dieser Roman schon länger auf dem Markt ist als das Buch aus meinem vorigen Post, wird ja hoffentlich niemanden hier stören. 😉

Worum geht’s?

Eine 47 Jahre alte Frau versucht einen Neuanfang: Sie hat sich von ihrem Mann Otis scheiden lassen und ist ans Meer gezogen, wo ihr Bruder lebt. Dort oben, in einem baufälligen Häuschen an der nicht genauer definierten „östlichen Küste“, will sie allein sein, zu sich selbst finden und wahrscheinlich auch den Auszug ihrer erwachsenen Tochter Ann verarbeiten. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Kellnerin in der Hafenkneipe ihres Bruders. Mit Otis steht sie nach wie vor in oft wehmütigem Briefkontakt. Gleichzeitig ergeben sich bei ihr im Lauf der Zeit Beziehungen zu neuen Menschen. Wird die Heldin im Norden heimisch werden? Oder wird sie ihre mühsam errungene Freiheit über alles stellen?

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist das Buch eigen: Es geht darin viel um Gefühle; trotzdem ist es „herb“ im Ton, die Sätze sind kurz und nüchtern, die Beschreibungen zielsicher. Dazu ist eine gewisse Nachlässigkeit spürbar. Besonders die Dialoge dürften bei allen Deutschlehrern und Lektorinnen die Hand im ersten Moment reflexartig in Richtung Rotstift zucken lassen:

Was, sagte Otis manchmal zu mir, hast du Ann eigentlich beigebracht.
Ich sagte, ich habe ihr beigebracht, höflich zu sein.
Alles andere ließ ich unerwähnt. Das Schwimmen. Das Schweigen.

(S. 126)

Das ist ja nun ganz und gar nicht die Interpunktion in der wörtlichen Rede, die man in der Schule lernt, angefangen beim fehlenden Fragezeichen! Aber sie passt zu den Figuren und der Art, wie sie interagieren. Vielleicht soll auf diese Weise auch der Eindruck verstärkt werden, dass hier eine Person einfach drauflosschreibt, weil sie keinen Sinn darin sieht, nach Perfektion zu streben. Das heißt übrigens nicht, dass die Erzählerin sich nicht hin und wieder bildhaft ausdrücken würde – es wird nur eben nicht lange poliert:

In der Kneipe kann ich meinen Bruder sich selbst überlassen, ihn auf seinem Platz hinter der Kaffeemaschine alleine lassen, er sitzt auf seinem Barhocker wie ein mürber und zerrupfter Vogel, der letzte seiner Art.

(S. 77)

Warum noch toll?

Daheim ist ein leiser Roman, der tief unter die Oberfläche taucht. Er behandelt die Weggabelungen des Lebens, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, das Älterwerden, die Trauer um vergangenes Glück, die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, das Loslassen, die Unabhängigkeit und ihren Preis.

Beim Lesen tauchen Fragen auf: Wieso ist die Protagonistin nicht bei ihrem kauzigen, aber freundlichen und klugen Ehemann geblieben? Wieso strebt sie nicht nach mehr beruflicher Erfüllung? Wieso lässt sie sich mit diesem Schweinebauern ein, den sie kaum kennt? Das alles ist schwer zu verstehen, aber irgendwie schafft es die Autorin, dass sich der Weg, den ihre – übrigens namenlos bleibende – Heldin einschlägt, letztlich passend anfühlt.

Wem gefällt’s?

Menschen, die gern viel nachdenken und ein Faible für die landschaftlichen Reize Norddeutschlands haben. Ein wenig hat mich Daheim an Vom Schlafen und Verschwinden von Katharina Hagena erinnert: Auch dort reflektiert eine Ich-Erzählerin ihr bisheriges Leben und die Beziehung zu ihrer selbstständig gewordenen Tochter. Und auch dort werden in aus der Erinnerung zitierten Dialogen keine Anführungszeichen gesetzt. Möglich, dass es da bei den Zielgruppen gewisse Überschneidungen gibt. 😉

***

Ab hier wird geschimpft

Na, Hand aufs Herz: Wer ist alles gleich hierher gesprungen, ohne erst den Haupttext zu lesen? Ha, erwischt! 😀 Aber ich versteh’s ja: Gemecker liest sich amüsanter als Lob (und schreibt sich meist auch leichter). Also los:

Enttäuschung Nummer eins war Das Jahresbankett der Totengräber von Mathias Enard. Die in Westfrankreich angesiedelte Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte. Dabei ist der Clou, dass die Seelen der Figuren durch das „Große Rad“ miteinander verbunden sind und permanent als neue Lebewesen wiedergeboren werden. Als beispielsweise der Besitzer des Dorfcafés stirbt, geht seine Seele auf einen Igel über. Dieser wird überfahren und die Seele wandert weiter in eine Bettwanze, die sich am Blut des auf der Durchreise befindlichen Napoleon Bonaparte gütlich tut. Und so fort. Erzählt ist das alles meisterlich, und Enard hat über das Deux-Sèvres und die umliegenden Départments anscheinend so ziemlich alles gelesen, was je über sie geschrieben wurde. Mir war schon auch klar, dass in dem Roman vermutlich viel gestorben wird – aber auf gefühlt jeder zweiten Seite und auf derart grässliche Arten und Weisen, genüsslich bis ins Detail beschrieben?! Ich fand das Buch furchtbar und konnte es beim besten Willen nicht zu Ende lesen. Allenfalls etwas für ganz Hartgesottene!

Enttäuschung Nummer zwei habe ich zu Ende gelesen, war aber hinterher ähnlich unzufrieden. Die einsame Bodybuilderin ist eine Sammlung von Kurzgeschichten aus der Feder der in Japan sehr erfolgreichen Autorin Yukiko Motoya. In den Episoden geht es um scheinbar durchschnittliche Menschen und ihren Alltag, wobei sich die Handlung früher oder später immer ins Absurde verkehrt. Eine Ehefrau beginnt zum Beispiel, sich in ihren Mann zu verwandeln, wohingegen er seinen Menschenkörper verliert und plötzlich eine Pfingstrose wird. Recht speziell, genau. Über so was kann man bestimmt wunderbare Textanalysen schreiben, aber als Freizeitlektüre hat es mir definitiv nicht getaugt.