Buchblog

Iris Wolff: Lichtungen (Klett-Cotta)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover des Romans „Lichtungen“ von Iris Wolff

Bleiben oder gehen?

So viel vorweg

In Lichtungen, den neuen Roman von Iris Wolff, musste ich mich eine ganze Weile einlesen. Er zeichnet sich durch eine besondere Erzählweise aus, die ihn nicht unmittelbar zugänglich macht, die aber – um das gleich vorauszuschicken – genial ist. Spätestens ab dem letzten Drittel wollte ich mich von der Geschichte und vor allem von Lev, der Hauptfigur, gar nicht mehr verabschieden. Manchmal lohnt es sich eben doch, an einem Roman dranzubleiben, auch wenn er zunächst etwas sperrig erscheint.

Worum geht’s?

Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zur Zeit des Kalten Krieges in einem Dorf in der Maramuresch im Norden Rumäniens beginnt. Dabei passiert das Anfreunden eher unfreiwillig: Lev ist über längere Zeit hinweg ans Bett gefesselt und wird von seiner Mitschülerin Kato mit den Hausaufgaben versorgt. Da sie im Dorf als Außenseiterin gilt, ist er über den regelmäßigen Kontakt anfangs wenig erfreut. Doch eigentlich weiß er genau, dass zwischen ihnen eine besondere Verbindung besteht. So entwickelt sich bald eine tiefe Freundschaft, die Levs und Katos Schulzeit, Levs Militärdienst und das Ende des realsozialistischen Systems in Rumänien überdauert. Als Kato irgendwann beschließt, es Levs Großvater Ferry sowie vielen Landsleuten gleichzutun und in Richtung Westen aufzubrechen, verliert Lev fast den Boden unter den Füßen. Aber Kato hält Kontakt, und schließlich wagt sich Lev ebenfalls ein Stück in die Welt hinaus.

Stilistisches et cetera

Wie eingangs erwähnt, ist es vor allem die Erzählweise, die Wolffs neues Buch so besonders macht. Erzählt wird nämlich in umgekehrter Richtung: Beginnend mit Kapitel 9 bewegt sich die Handlung gegen den Strom der Zeit rückwärts, bis sie bei Levs früherer Kindheit in Kapitel 1 ankommt. Dabei wird die Geschichte immer spannender, da sich Detail um Detail aufklärt und man den Figuren, die in den ersten Kapiteln rätselhaft und fast unnahbar wirken, zusehends näher kommt. Am Ende – das ja eigentlich der Anfang ist – fühlt man sich ihnen dann so verbunden, dass man am liebsten gleich wieder von vorn – also von hinten – mit dem Lesen anfangen möchte.

Dazu trägt nicht zuletzt der bildhafte und gefühlvolle Schreibstil der Autorin bei. Was Lev während der langen Zeit seiner Bettlägerigkeit empfindet, beschreibt Iris Wolff beispielsweise so:

Seine Körpergrenzen begannen zu verschwimmen, wo hörte die Haut auf, und wo begann das Bett? Der Raum gab unter dem Gewicht seines Körpers nach. Er sank. Im Dunkeln war alles fort, das Halt gab, ihm anzeigte, wo oben und unten war, wie sein Körper sich im Raum befand. Er lag auf einem Bett, vielleicht trieb er auch auf einem Fluss, oder er fiel durchs Wasser, immer tiefer.

(S. 203)

Warum noch toll?

Mein Wissen über Rumänien im Allgemeinen und seine einzelnen Regionen im Speziellen hätte ich bislang als eher überschaubar beschrieben. 😉 Der Roman hat mir diesbezüglich einigen Erkenntnisgewinn gebracht, unter anderem dank Passagen wie dieser:

Bis neunzehnhundertneunzehn gehörte Siebenbürgen, ebenso wie die Maramuresch, zu Österreich-Ungarn, erklärte Ferry, dann zum Königreich Rumänien, zwanzig Jahre später wieder Ungarn, vier Jahre später wieder Rumänien. Das alles sei, wie Lev sich vorstellen könne, enervierend gewesen. Jetzt entscheide er selbst.

(S. 239)

Dass die Menschen in der Maramuresch und in Siebenbürgen so oft die Nationalität wechseln mussten, ohne sich je vom Ort ihrer Geburt wegzubewegen, war mir in der Tat nicht bewusst. Auch was die spätere Öffnung der europäischen Grenzen für viele Familien und Freundschaften bedeutete, wurde für mich erst durch die Lektüre so richtig greifbar. Kato zieht es in die Welt hinaus. Lev, der sich mit seiner Heimat und ihrer malerischen Landschaft stark verbunden fühlt, hat die „Hoffnung, bleiben zu können“ (S. 72). So werden äußere Umstände zur Zerreißprobe für eine scheinbar unzerstörbare Beziehung.

Stichwort „Beziehung“: Es wird relativ klar, dass Lev für Kato mehr empfindet als platonische Zuneigung. Wenn es um Erotik geht, bleibt im Buch jedoch auch so einiges im Ungewissen. Angesichts der Tatsache, dass derzeit viele Romane mit expliziten Szenen überfrachtet werden, bis es irgendwann nur noch nervt, fand ich diese Subtilität, das manchmal nur Angedeutete, zwischen den Zeilen Schwebende ausgesprochen angenehm.

Wem gefällt’s?

Lichtungen ist eines der leiseren Bücher, nicht allzu schwer und doch melancholisch und voller Tiefe, im Ansatz vielleicht so ähnlich wie Daheim von Judith Hermann oder Die Glücklichen von Kristine Bilkau. Zugleich ist es aber auch wieder ganz anders, da bei Iris Wolff die individuellen Schicksale eng mit politischen Gegebenheiten verflochten sind. Wärmstens empfehlen kann ich das Buch allen, die Geschichten mit nachdenklichen, tiefgründigen Charakteren mögen.

J. Sebauer: Nincshof – U. Sterblich: Drifter – T. Schachinger: Echtzeitalter

Kurzrezensionen von Julia Hartel

So viel vorweg

Die Romane, die ich diesmal vorstellen möchte, sind sehr verschieden, weisen jedoch untereinander auch einzelne Gemeinsamkeiten auf: Nummer 1 und 3 spielen in Österreich, Nummer 2 und 3 stehen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 und Nummer 1 und 2 habe ich ausgesprochen gern gelesen, ohne am Ende restlos überzeugt zu sein. Interessant sind sie aber alle! Meines Erachtens genug Gründe, sie kurz und knapp in einem gemeinsamen Posting zu beleuchten.

Johanna Sebauer: Nincshof (Dumont)

Buchcover Nincshof

Worum geht’s?

In Nincshof an der österreichisch-ungarischen Grenze wird eine ungewöhnliche Initiative gegründet: Ein paar Männer, die sich „Oblivisten“ nennen, wollen erreichen, dass ihr Heimatort von allen nicht dort lebenden Menschen vergessen wird. Dumm nur, dass sich die zugezogene Dokumentarfilmerin Isa Bachgasser so brennend für die Dorfgeschichte interessiert und sich zu allem Überfluss auch noch mit Erna Rohdiebl, dem neuesten Mitglied der Oblivistentruppe, anfreundet. Wird das Projekt scheitern?

Meine Meinung

Sebauers Debütroman hat mir viel Lesefreude bereitet, aber leider auch Rätsel aufgegeben. Der Schreibstil zeichnet sich durch die angenehme Mischung aus gestochen scharfen und zugleich poetischen Formulierungen aus, die mir immer sehr gut gefällt. Man begegnet sympathischen Charakteren und witzigen Ideen, planscht mit Erna Rohdiebl heimlich nachts im Pool der Nachbarin und stromert mit Isa Bachgasser zu Recherchezwecken auf dem brütend heißen Dorffriedhof herum. Erzählen kann die Autorin also meisterlich! Was sie letztlich mit ihrem Buch sagen will, ist für mich jedoch offengeblieben. Nähme man die Grundidee ernst, müsste man Nincshof politisch gesehen wahrscheinlich sogar höchst problematisch finden, denn letztlich wollen sich die Oblivisten vom Bundesstaat Österreich abnabeln. Fasst man das Buch aber einfach als gut geschriebene Geschichte auf, kann man ein paar sehr vergnügliche Stunden damit verbringen.

Ulrike Sterblich: Drifter (Rowohlt Hundert Augen)

Buchcover Drifter

Worum geht’s?

Wenzel Zahn ist Community-Manager bei einem Fernsehsender und hat meistens Pech in der Liebe. Eines Tages wird sein bester Freund Marco Killmann, genannt „Killer“, vom Blitz getroffen – eine persönlichkeitsverändernde Erfahrung für den erfolgreichen Karrieremann. Dass die Freunde kurz zuvor zum ersten Mal der geheimnisvollen Vica begegnet sind, kann aus Wenzels Sicht kein Zufall sein. Denn von diesem Tag an bringt Vica mit ihren rätselhaften Geschäftsideen einfach alles durcheinander. Ihre Firmenzentrale richtet sie in dem Mietshaus ein, in dem Wenzel und Killer aufgewachsen sind – doch das ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten …

Meine Meinung

Es ist mir eigentlich ein bisschen schleierhaft, wie ein Roman wie Drifter auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landen konnte. Und das sage ich gar nicht wegen der schrägen Handlung oder der teils flapsigen Sprache. Ich sage es, weil das Buch … nun ja … Spaß macht 🫣 – meiner bisherigen Erfahrung nach nicht unbedingt ein Kriterium für die Vergabe dieses Preises. Anscheinend war die im Roman enthaltene Kritik am fragwürdigen Wertesystem unserer Gesellschaft und der Medien ausschlaggebend, dem der Wert der Freundschaft gegenübergestellt wird. Trotz dieser sicherlich ernst gemeinten Botschaft habe ich aber, wie bereits angedeutet, viel gelacht: über die ganzen verrückten Einfälle und vor allem über die liebenswerten Freunde Wenzel und Killer mit ihren köstlichen Dialogen. Was ich dabei nicht verschweigen will: Ich persönlich hätte mir einen anderen Schluss gewünscht. Deshalb also auch im Falle von Drifter ein paar Punkte Abzug meinerseits.

Tonio Schachinger: Echtzeitalter (Rowohlt)

Buchcover Echtzeitalter

Worum geht’s?

In Echtzeitalter durchleben wir gemeinsam mit Till Kokorda neun Schuljahre am „Marianum“, einem angesehenen Wiener Halbinternat. Leider hat Till das Pech, an den wahrscheinlich strengsten und konservativsten Klassenlehrer zu geraten, den diese Institution zu bieten hat: den Dolinar. Dass Till sich absolut nicht für dessen Fächer interessiert – nämlich für Deutsch und Französisch –, sondern sich am liebsten bis in die Nacht dem Online-Strategiespiel Age of Empires 2 hingibt, macht die Sache nicht besser. Natürlich gehören zu Tills Schullaufbahn auch Freundschaften, Verluste, Liebeskummer, Partys und Schülerstreiche. Doch selbst über den schönen Momenten schwebt der Dolinar wie ein dunkler Schatten, und eins ist klar: Sich unter solchen Voraussetzungen individuell zu entfalten, ist eine Herausforderung.

Meine Meinung

Auch dieses Buch hat mir gefallen, und zwar – man glaubt es kaum – sogar einschließlich des Schlusses! Klar, manchmal hat Till mich ein bisschen wahnsinnig gemacht (ist es wirklich so schwer, an die Lektüre für die morgige Deutschstunde zu denken?!), aber ins Herz geschlossen habe ich ihn dennoch. Wie sein Lehrer ihn gnadenlos bestraft und oft demütigt, wie sein großes Talent als professioneller Gamer völlig verkannt wird und er die meiste Zeit fast an der Schule verzweifelt, all das lässt mitleiden und regt zum kritischen Nachdenken über das klassische Schulsystem an. Zudem nimmt Schachinger immer wieder die österreichische Politik der letzten Jahre ins Visier. Seinen Stil muss man allerdings mögen: Die Sätze sind teils recht lang und verschachtelt, und besonders am Anfang des Romans wird vieles eher erklärt anstatt mithilfe von Szenen gezeigt. Trotzdem ein empfehlenswertes Buch, das bei mir mit so schönen Austriazismen wie „Schlapfen“ Erinnerungen an die Jugendromane von Christine Nöstlinger geweckt hat.

Anthony McCarten: Going Zero (Diogenes)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover Going Zero von Anthony McCarten

Schwere Zeiten für böse Buben

So viel vorweg

Ich hätte auf Going Zero von Anthony McCarten gern eine Hymne geschrieben, weil ich die Plot-Idee so klasse fand. Während des Lesens verwandelte sich meine anfängliche Euphorie dann eher in so etwas wie „freundliche Gewogenheit“. Dass ich den Roman trotzdem hier vorstellen möchte, liegt an der anspruchsvollen philosophischen Frage, die ihm zugrunde liegt. Aber der Reihe nach.

Worum geht’s?

Sämtlichen Kriminellen weltweit soll endlich das Handwerk gelegt werden. Zu diesem Zweck hat die CIA ein gigantisches Überwachungsprojekt aufgesetzt. Mit an Bord: Hightech-Tycoon Cy Baxter mit seinem fiktiven Social-Media-Unternehmen „WorldShare“. Neben einem ganzen Heer von Hackern kann er zur Überwachung all die Daten beisteuern, die ihm die Menschen über sein soziales Netzwerk zur Verfügung stellen.

Nur ein gelungener Betatest trennt Baxter von einem Zehnjahresvertrag mit der CIA und den gemeinsamen internationalen Aktivitäten. Ihm und seinem Team muss es gelingen, zehn ausgewählte Testpersonen aufzuspüren, die ihre digitalen wie analogen Spuren auf der Welt möglichst auf null bringen und sich so ungefähr einen Monat lang vor dem System versteckt halten sollen.

Eine dieser sogenannten „Zeros“ ist die unscheinbar wirkende Bibliothekarin Kaitlyn Day. Überraschenderweise entpuppt ausgerechnet sie sich als Cy Baxters härteste Gegnerin. Gelingt es ihm nicht, sie vor Ablauf der Frist zu schnappen, erhält sie drei Millionen Dollar. Doch auf Geld scheint sie es gar nicht abgesehen zu haben. Was treibt sie an?

Stilistisches et cetera

Going Zero ist solide geschrieben und wurde von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié ebenso solide übersetzt. Zeitform Präsens, recht knackige Sätze, die Kapitelüberschriften wie ein Countdown zum Fristende angelegt: „29 Tage 20 Stunden“, „28 Tage 5 Stunden“ und so fort. Auf diese Weise wird man als Leser/-in schnell mitten ins Geschehen geholt und verfolgt für eine ganze Weile gespannt, wie es den Zeros in ihren Verstecken ergeht.

Dabei ist es beinahe erstaunlich, dass man eher ihnen die Daumen drückt als dem System. Schließlich sind Baxters Motive für das Beobachten seiner Mitmenschen doch untadelig – ihm geht es um Verbrechensvorbeugung:

„Unser Ziel ist also letzten Endes etwas geradezu lächerlich Einfaches: Wir machen das Leben für die bösen Buben ein gutes Stück schwerer und für die netten Jungs ein gutes Stück leichter, und wir tun das mit dem Besten, was wir an Technik zur Verfügung haben.

(S. 26)

Klingt doch erst mal nicht schlecht. Würden die heute vorhandenen technischen Überwachungsmöglichkeiten in so großem Stil ausgeschöpft wie im Buch beschrieben, könnten Terroranschläge verhindert und die Kriminalität drastisch reduziert werden. Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, braucht ja auch keine Angst zu haben. Andererseits stoßen wir hier auf die eingangs erwähnte philosophische Frage: Wie wertvoll ist Freiheit – vor allem im Verhältnis zu Sicherheit?

Eine letztgültige Antwort liefert der Roman nicht. Aber er gibt wichtige Denkanstöße, vor allem im Hinblick darauf, was wir so alles im Netz von uns preisgeben. Für viele Menschen ist Privatsphäre wohl tatsächlich „passé“, wie Baxter es ausdrückt. Wieso das so bereitwillig hingenommen wird? Er sieht es glasklar:

„Weil beobachtet zu werden … das fühlt sich ein klein wenig so an, wie geliebt zu werden.

(S. 279)

Warum bin ich trotz allem nicht restlos begeistert?

Zum einen ist das Buch einfach ein My zu lang. Die ersten gut 230 der insgesamt 445 Seiten lesen sich ganz flüssig weg, aber danach hatte offenbar niemand mehr so recht Lust zu kürzen, wodurch der Spannungsbogen leider den einen oder anderen Knacks bekommt. Und das, obwohl es sogar noch eine unerwartete inhaltliche Wendung gibt!

Zum anderen bleiben die Figuren seltsam eindimensional. Besonders Cy Baxter wirkt wie aus dem „Gewissenlose Manager“-Katalog ausgeschnitten. Doch auch von keiner der anderen Hauptpersonen fiel mir beim Umschlagen der letzten Seite der Abschied so richtig schwer.

Wem gefällt’s?

Going Zero bietet weder den Nervenkitzel eines Fitzek-Krimis noch die psychologische Tiefe eines Maigret-Romans. Der Fokus liegt eher auf Systemkritik. Somit eignet sich das Buch für Fans von Polit- und Spionage-Thrillern sowie für Menschen, die sich für die Themen Datenschutz und Datensicherheit interessieren.

Olga Tokarczuk: Empusion (Kampa)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover Empusion

Schwindsucht, Mansplaining und Kräuterlikör

So viel vorweg

Ein Romanprojekt, das sich laut Klappentext explizit auf Thomas Manns Zauberberg bezieht, würden wohl nicht viele starten. Olga Tokarczuk hat es mit Empusion gewagt. Darf sie auch, könnte man sagen, schließlich hat sie 2019 den Literaturnobelpreis für 2018 bekommen. Ich sage eher: Darf sie auch, denn wer so schreibt, kann es – unabhängig von irgendwelchen Auszeichnungen – locker mit jedem Großmeister aufnehmen.

Worum geht’s?

Es ist das Jahr 1913. Der 24-jährige Mieczysław Wojnicz, Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik im polnischen Lemberg, reist nach Görbersdorf in Schlesien, um dort seine Lungenkrankheit behandeln zu lassen. Er logiert im „Gästehaus für Herren“, in dem er gleich am ersten Tag eine verstörende Entdeckung macht: Die Frau des Besitzers hat sich wenige Stunden zuvor das Leben genommen. Für ihren Mann und Mieczysławs Mitpatienten im Gästehaus ist die Sache klar: So etwas Irrationales kann nur eine Frau zustande bringen. Weibliche Gehirne sind eben einfach kleiner als männliche. Solche und ähnliche „Erkenntnisse“ werden zwischen Liegekuren, Spaziergängen und Wasseranwendungen erörtert, nicht ohne dabei üppig zu schmausen und zu trinken. Doch bald stellt sich heraus, dass es in der Gegend um Görbersdorf immer wieder zu rätselhaften Todesfällen kommt. Auch der Protagonist scheint in Gefahr zu schweben. Offenbar ist in dem malerischen Luftkurort – ebenso wie bei Mieczysław selbst – vieles ganz anders, als man auf den ersten Blick meint.

Stilistisches et cetera

Empusion ist ein überaus kluges, ausgezeichnet geschriebenes Buch. In stilistischer Hinsicht changiert es ein wenig: Einerseits werden Handlungsschauplatz und Figuren mit betulicher Sorgfalt beschrieben. Die Leute tragen „seladonfarbene Foulards“ und „Leibröcke“, und sie „perorieren“, wenn sie ihre Weisheiten verbreiten. Andererseits geht es auf erzählerischer Ebene sehr modern zu, indem zum Beispiel schonungslos in private Abgründe geblickt wird. Poetisch und kunstvoll ist die Sprache jedoch immer, wie man schon an solchen Kleinigkeiten wie der Beschreibung des Lichts einer elektrischen Lampe sehen kann:

Der gedämpfte Schein, ein gleichsam erschöpftes, zotteliges Leuchten, ließ den Raum größer wirken, nach allen Richtungen schien er sich zu dehnen, weit in die Tiefe der samtigen Dämmerungen.

(S. 60)

Solche Sätze lassen – bei aller vermutlich beabsichtigten Übertreibung – einfach mein Herz aufgehen. An dieser Stelle übrigens ein großes Kompliment an das Übersetzerduo Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein! Man merkt im Grunde überhaupt nicht, dass man es mit einer Übersetzung zu tun hat.

Mindestens ebenso hingerissen wie vom Stil war ich aber von der Handlung. Schon lange wollte ich nicht mehr so dringend wissen, wie eine Geschichte weiter- und ausgeht und welches Schicksal die Figuren wohl ereilen wird. Besonders der Hauptcharakter, bei dem der Soldatendrill von Vater und Onkel nicht gefruchtet hat und der nicht recht in die Männerrunde des Görbersdorfer Gästehauses passen will, hat es mir angetan. Und auch den schwer an der Schwindsucht erkrankten Künstler Thilo, Mieczysławs einzigen echten Ansprechpartner, kann man nur gernhaben.

Warum noch toll?

Die Männer in Empusion „mansplainen“, was das Zeug hält. Dies tun sie vorzugsweise bei einem oder mehreren Gläschen Kräuterlikör. Dabei wird die Wichtigtuerei etwa eines Longinus Lukas (Gymnasiallehrer aus Königsberg) herrlich ironisiert:

„Die große Zeit des Menschen geht ihrem Ende entgegen, kann das wirklich niemand sehen?“, tönte er durch die Serviette, mit der er sich das von Tomatensoße bekleckerte Kinn abwischte.

(S. 303)

Nicht selten fühlt man sich bei den beschriebenen Symposien (also den geselligen Trinkrunden) an die Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta im Zauberberg erinnert. Der Schwerpunkt bei Tokarczuks Intellektuellen liegt jedoch auf einem ganz bestimmten Thema: den Frauen. Wie Empusen (weibliche Schreckgespenster aus der griechischen Mythologie) geistern sie durch die Geschichte und durch die Männerhirne. So wird denn auch, obwohl man sich über die Minderwertigkeit der Frauen einig ist, auffallend häufig über sie gesprochen.

Bei den frauenverachtenden Äußerungen, die die Autorin ihren Männerfiguren dabei in den Mund legt, handelt es sich übrigens um Paraphrasen von Textpassagen verschiedenster Autoren, darunter Cato der Ältere, Charles Darwin, Jean-Paul Sartre, Otto Weiniger und viele mehr. All das ist – ich sagte es schon – ausgesprochen klug, amüsant und fesselnd.

Umso bedauerlicher fand ich es, dass das Ende des Romans dann doch etwas versponnen wirkt. Spätestens hier wird eingelöst, was der Untertitel „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“ verspricht; es führt aber auch dazu, dass die Erzählung nicht mehr ganz glaubwürdig wirkt. Trotzdem kann ich das Buch insgesamt nur empfehlen!

Wem gefällt’s?

Empusion ist ganz klar ein feministisches Buch und zugleich als Plädoyer für geschlechtliche Vielfalt zu lesen. Gefallen wird es all jenen, die die Kombination aus gehobener Ausdrucksweise und zeitgemäßer Botschaft reizvoll finden. Und wer den Zauberberg kennt, wird Empusion wahrscheinlich sowieso kennenlernen wollen.

Arno Frank: Seemann vom Siebener (Tropen)

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans Seemann vom Siebener von Arno Frank

Gerade noch ein Sommerbuch

So viel vorweg

Für die, die es nicht wissen: Der „Seemann“ ist eine Variante des Kopfsprungs, bei der die Arme auf dem Rücken oder am Körper angelegt bleiben. Mir persönlich war das neu, aber ich will es mir mal verzeihen, da der Duden diese zusätzliche Wortbedeutung auch nicht kennt. 😌 Der „Siebener“ wiederum ist eine der Plattformen eines Sprungturms, die sich jedoch streng genommen gar nicht auf 7, sondern auf 7,5 Metern Höhe befindet. Auch das wusste ich nicht, bis ich mir Arno Franks Seemann vom Siebener zu Gemüte geführt hatte. Lesen bildet eben!

Worum geht’s?

Es ist der letzte Freitag der Sommerferien, und die Menschen in Ottersweiler sehnen sich nach Abkühlung. So zieht es viele von ihnen ins örtliche Freibad, das voller Geschichten und Erinnerungen steckt. Josefine und Lennart zum Beispiel waren schon während ihrer Schulzeit regelmäßig hier – damals allerdings noch gemeinsam mit Max. Isobel, deren verstorbener Mann das Bad einst geplant hat, kommt sowieso täglich her, wobei sie sich in letzter Zeit immer häufiger in der Vergangenheit verheddert. Kiontke, der Bademeister, ist ebenfalls stets auf dem Gelände anzutreffen. Dabei finden manche Leute, dass er nach dem Unglück damals seinen Job hätte wechseln sollen. Und auch für die namenlos bleibende Ich-Erzählerin mit dem frisch rasierten Kopf hat das Bad eine besondere Bedeutung. Sie hat hier nämlich heute etwas vor – wird sie es schaffen?

Zuerst die Minuspunkte

Obwohl Seemann vom Siebener ohne Frage ein Roman mit Tiefgang ist, war ich nach der Lektüre teilweise unzufrieden. Das lag nicht daran, dass das Erzähltempo aufgrund der zahlreichen Rückblenden vergleichsweise langsam ist; der Punkt war eher, dass mir zu vieles angerissen und dann doch nicht zu Ende gebracht wurde. Manche Handlungsstränge scheinen etwas zu „versanden“. Zudem begibt sich der Autor teilweise ein gutes Stück hinunter in die Abgründe der menschlichen Psyche, verschweigt dabei aber Hintergrundinformationen (vor allem zur Ich-Erzählerin und ihrer Mutter). Möglich, dass deshalb manche Handlungen seiner Figuren nicht ganz glaubwürdig wirken. Natürlich muss in einem Roman keineswegs immer alles aufgelöst werden, aber ich wäre mitunter gern mehr an die Hand genommen worden, um die Geschichte besser zu verstehen.

Und trotzdem …

… ist das Buch definitiv lesenswert! Die vielen Geheimnisse, die die Protagonistinnen und Protagonisten mit sich herumtragen, sorgen für Spannung, ihre (Selbst-)Reflexionen für den erwähnten Tiefgang. Auch das Setting – das Freibad der fiktiven Kleinstadt als einziger Handlungsschauplatz, an dem an nur einem Tag mehrere Stränge zusammenlaufen – ist gut gewählt.

Nicht zuletzt überzeugt mich Arno Franks starke Sprache, die sachlich und bildhaft zugleich ist und auf den journalistischen Hintergrund des Autors hindeutet. Besonders gut gefällt mir die Idee, im Falle der meisten Figuren die personale Perspektive zu wählen und nur eine von ihnen in Ich-Form erzählen zu lassen. Vor allem bei ihr sitzt jedes Wort. Doch auch Lennart, der als erfolgreicher Fotograf weit herumgekommen ist, bringt die Dinge gut auf den Punkt:

Lennart lässt den Blick über das Freibad schweifen. Alles ist so, wie es war. Gleiche Größe, gleiches Gewicht. Wie kann das sein? Dort, die alte Linde, eine lautlose Explosion in Grün, ist sogar noch größer geworden in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Unheimlich, denkt er, wie wir als Kinder höchstens in Monaten rechnen, später dann in Jahren, irgendwann sogar in Jahrzehnten. Und plötzlich ist ein Vierteljahrhundert verstrichen […]. Kein Wunder, dass man den Moment so gerne festhalten möchte.

(S. 57)

Wem gefällt’s?

Im Hinblick auf die episodische Erzählstruktur – eine Technik, die ich sehr mag – hat mich Seemann vom Siebener ein bisschen an Katharina Hagenas Geräusch des Lichts erinnert. Allerdings ist bei Arno Frank das Ende deutlich offener gehalten. Insgesamt ein Buch, das Stoff zum Nachdenken liefert, aber trotzdem gerade noch als Sommerbuch durchgeht.

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp)

Rezension von Julia Hartel

Die Geschichte eines Querdenkers

So viel vorweg

Biografische Romane lese ich eigentlich gar nicht so gern. Schließlich kann man in Bezug auf die porträtierte Person nie wissen, was man für bare Münze nehmen soll und was der Autor oder die Autorin kurzerhand dazuerfunden hat. Bei Monde vor der Landung von Clemens J. Setz habe ich dann aber doch eine Ausnahme gemacht, da ich mich zuletzt wieder mit einigen Büchern gelangweilt hatte – eine Gefahr, die hier nicht bestand. Wer Indigo gelesen hat, wird verstehen, was ich meine.

Worum geht’s?

Das Buch erzählt die Geschichte des Schriftstellers Peter Bender, geboren 1893 in Bechtheim in Rheinland-Pfalz. Bender war Anhänger der sogenannten Hohlwelt-Theorie, die besagt, dass sich unser Leben nicht auf, sondern in der Erdkugel abspielt, genauer gesagt auf deren Innenwand. Im Zentrum der Hohlkugel befinden sich dieser Theorie zufolge die vergleichsweise winzigen Gestirne.

Bender dient im Ersten Weltkrieg als Fliegerleutnant und zieht sich bei einem Absturz schwere Kopfverletzungen zu. 1917 heiratet er die aus einer jüdischen Familie stammende Charlotte Asch, mit der er einen Sohn und eine Tochter bekommt. Er lebt nun in Worms, gründet dort eine Religionsgemeinschaft namens „Wormser Menschengemeinde“, verfasst Horoskope und den Roman Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit, der 1927 erscheint. Nachdem er schon Anfang der 1920er-Jahre „wegen Gotteslästerung und Verbreitung umtriebiger Geisteshaltung“ für einige Wochen im Gefängnis war, wird er 1941 – inzwischen in bitterer Armut lebend – von den Nazis verhaftet und stirbt im KZ Mauthausen.

Stilistisches et cetera

Wäre Setz kein hervorragender Autor, hätte man ihn 2021 sicherlich nicht mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Die Jury nannte ihn damals einen „Sprachkünstler“ – und das zu Recht. Da sieht eine Gerichtsstenotypistin einen Richter „krummrückig“ an (S. 64), ein anderes Mal wird von Benders Empfinden berichtet, „dass sein Gesicht vollkommen falsch auf den Schädelknochen hing, und er hielt es fest und drückte daran herum“ (S. 97), oder eine Katze flieht „in rein formell wirkender Eile“ in ein anderes Zimmer (S. 235). In der Passage über Benders Zugreise zu Karl Neupert, dem ersten Vertreter der Hohlwelt-Theorie in Deutschland, ist zu lesen:

In Augsburg stieg mit ihm lediglich ein älteres Paar aus, beide aus derselben Knetmasse geformt. Bender segnete sie, lautlos, im Vorbeigehen.

(S. 234)

Ich könnte noch viele Stellen zitieren, aber wahrscheinlich ist schon deutlich geworden, worauf ich hinauswill: Setz hat erfrischend viele unverbrauchte Formulierungen zur Hand. Was besonders unter die Haut geht, sind Benders in Rückblenden geschilderte Kriegserlebnisse. Hunger und Kälte, Bombenexplosionen, verletzte Kameraden – Szenen dieser Art kommen in vielen Büchern und Filmen vor, aber selten konnte ich mir das durch den Kriegswahnsinn verursachte Gehirnchaos so gut vorstellen. Deshalb hier noch ein letztes kurzes Beispiel aus der Passage über Benders letzten Aufklärungsflug:

Es begann mit einem Griff zum Einstellhebel des Reihenbildners. Mit einem was? Einstell…herbel. Jawohl, Reinenbildnerns. Wie ging das Wort? Reihensbilersn. Frechheit.

(S. 97)

Warum noch toll?

Ich habe beim Lesen zu keinem Zeitpunkt so richtig verstanden, wie Bender, Neupert oder ihr amerikanischer Bruder im Geiste, Cyrus Reed Teed, auf ihr Weltbild kamen, doch eines wird im Buch klar: Bender glaubte wirklich daran! Auch andere Theorien – etwa die von den größeren und kleineren Monden, die ab und zu bei uns landen, aufbrechen und neue Lebewesen oder Pflanzen freigeben, oder sein eigenes Konzept der Doppelehe – hielt er für absolut plausibel (und sich selbst für klüger als viele andere Menschen). Die Parallelen zu heutigen Querdenkern sind kaum zu übersehen.

Setz nun gelingt es, wertfrei in einen solchen Geist Einblick zu gewähren. Natürlich kann niemand wissen, was in Peter Benders Gehirn wirklich vor sich ging, wie er tatsächlich sprach und sich verhielt. Die in den dritten Romanteil eingearbeiteten Briefe, Skizzen, Protokolle und sonstigen Originalquellen lassen jedoch den Schluss zu, dass Setz’ Deutungen der Wahrheit ziemlich nahekommen. Offenbar trafen hier Intelligenz, gewisse angeborene Besonderheiten in Bezug auf die Wahrnehmung der Welt sowie unverarbeitete Traumata aufeinander und führten zu den beschriebenen abstrusen Gedankenkonstrukten.

Insgesamt war ich beständig hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit, Amüsiertheit, Mitleid und heiligem Zorn – und demzufolge außerstande, mir über den Protagonisten des Romans ein abschließendes Urteil zu bilden. Das wiederum werte ich aber als Qualitätsmerkmal! Der Mensch ist ein komplexes Wesen, und Clemens J. Setz ist offensichtlich ein Meister darin, diese Komplexität einzufangen.

Wem gefällt’s?

Monde vor der Landung lässt sich wieder einmal schwer mit anderen Romanen vergleichen. Das Buch stellt eine reale und sehr außergewöhnliche Person vor, die ihre Spuren auf (oder in? ;-)) der Welt hinterlassen hat. Dazu kommt die beschriebene starke Sprache. Insgesamt also ein Werk für anspruchsvolle Leser/-innen mit Interesse an der jüngeren deutschen Geschichte.

Ray Loriga: Kapitulation (CulturBooks)

Rezension von Julia Hartel

Im gläsernen Käfig

So viel vorweg

Manche Szenen oder Schauplätze aus Büchern haben sich in mein Gedächtnis eingegraben, als hätte ich sie im Film gesehen. Dass es mir mit Kapitulation von Ray Loriga auch so ergehen würde, stand für mich schnell außer Frage, denn der Handlungsschauplatz ist schlichtweg unvergesslich. Das spanische Original des Romans wurde 2017 veröffentlicht und mit dem Premio Alfaguara de Novela ausgezeichnet. Erst im September 2022 erschien die deutsche Version (Übersetzung: Alexander Dobler).

Worum geht’s?

Um einen namenlosen Ich-Erzähler und seine namenlose Frau in einem namenlosen Staat, in dem seit zehn Jahren Krieg herrscht. Das Paar wohnt in einer ländlichen Gegend und hat einen offenbar verwaisten Jungen bei sich aufgenommen, der nicht spricht. Die kleine Familie lebt bescheiden, aber relativ glücklich, bis die Regierung eines Tages eine Umsiedlungsaktion anordnet: Alle Einwohnerinnen und Einwohner des Landes müssen ihre Häuser niederbrennen und in die sogenannte Durchsichtige Stadt umziehen. Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, denn in der Stadt bestehen alle Gebäude und Straßen aus Glas bzw. Polycarbonat. Der Erzähler ist zunächst recht beeindruckt, zumal er fast umgehend eine Arbeitsstelle bekommt und es scheinbar auch sonst niemandem an etwas fehlt. Irgendwann merkt er jedoch, dass an diesem Ort niemals unbequeme Fragen gestellt werden. Als er selbst damit beginnt, offenbart die Stadt ihr wahres Gesicht.

Stilistisches et cetera

Der Held betont selbst immer wieder, dass er ein einfacher Mann sei. Entsprechend schlicht bis derb, aber durchaus reflektiert lässt ihn Loriga über sich und sein Leben in der hoch technisierten Durchsichtigen Stadt erzählen, wo alles so perfekt wirkt und auch in der eigenen Gefühlswelt stets eitel Sonnenschein herrscht. Letzteres findet der Protagonist umso erstaunlicher, als seine Ehefrau ein Verhältnis mit ihrem neuen Arbeitskollegen anfängt und diesen sogar bei sich und ihrem Mann einziehen lässt. Eine konfliktträchtige Situation, doch gegen die Euphorie in dieser Stadt scheint kein Kraut gewachsen zu sein:

Es stimmte zwar, dass ich mir alle Mühe gegeben hatte, mich sämtlichen Herausforderungen meines neuen Lebens zu stellen, seit man mich damals angewiesen hatte, mein eigenes Haus anzuzünden und die Koffer zu packen. Aber niemals hätte ich mir träumen lassen, angesichts so vieler Widrigkeiten so glücklich sein zu können, und das auch noch komplett gegen meinen eigenen Willen.

(S. 136)

Dass dieses „Glücklichsein wider Willen“ funktioniert, hat übrigens einen ganz besonderen Grund, hinter den der Held im Verlauf der Handlung auch noch kommt.

Als Kontrast zu den rätselhaften Glücksgefühlen lässt der Autor zwischen den Zeilen immer wieder eine unterschwellige, vielleicht sogar teils unbewusste Angst spürbar werden. Dies führt beim Lesen zu einer gewissen Nervosität, weil man ständig – und zu Recht – damit rechnet, dass die ganze Sache kippt. Vor allem dieser Kniff lässt einen Lesesog entstehen, der bis zum überraschenden Ende des Buches anhält.

Warum noch toll?

Weil der Roman viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Wird der Staat, in dem der Held lebt, von einem manipulativen totalitären Regime kontrolliert? Oder ist die Geschichte doch eher grundsätzlich als Parabel auf moderne Gesellschaften zu sehen, wie es das Zitat der Jury des Premio Alfaguara de Novela auf der Buchrückseite nahelegt?

Klar ist jedenfalls: Dieser besondere Überwachungsstaat ist kein Ort, an dem man leben möchte. Niemand braucht Geld, weil der Kühlschrank automatisch und nach einem individuellen Ernährungsplan mit gesunden Lebensmitteln gefüllt wird. Es gibt Arbeit und Hobbys, aber diese haben eher den Charakter von Beschäftigungstherapien. Negative Emotionen werden im Keim erstickt. Die einzige Anstrengung, die dem Helden abverlangt wird, besteht darin, sich anzupassen. Aber egal, ob ein Überwachungsstaat oder unsere Gesellschaften im Allgemeinen gemeint sind: Kapitulation warnt eindringlich davor, Werte wie Individualität, Meinungsfreiheit oder die Achtung der Privatsphäre gering zu schätzen.

Wem gefällt’s?

Inhaltlich erinnert Kapitulation an Dystopien wie beispielsweise Fahrenheit 451 aus der Feder von Ray Lorigas Vornamensvetter Ray Bradbury. Auf sprachlich-stilistischer Ebene lassen sich jedoch klare Unterschiede zu diesem Klassiker feststellen: So ist Kapitulation, wie erwähnt, in der Ich-Form verfasst und trägt praktisch keine poetischen Züge. Zudem werden beinahe alle Gespräche in indirekter Rede wiedergegeben. In diesen Stil muss man sich erst ein wenig einfinden, doch wer es vielleicht sowieso etwas schnörkelloser mag, dürfte von der packenden Story fasziniert sein.

Mariana Leky: Kummer aller Art (DuMont)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Kummer aller Art“ von Mariana Leky

Ein Bändchen voller Kunstwerke

So viel vorweg

Meine Lieblingsautorin Mariana Leky hatte so lange kein neues Buch mehr herausgebracht, dass ich schon ganz zappelig war. Umso tragischer, dass ich Kummer aller Art dann gleich wieder in gefühlten 20 Minuten durchgelesen hatte. Dazu muss aber gesagt werden, dass es sich diesmal nicht um einen 300-Seiten-Roman, sondern um einen (leider!) eher schmalen Band mit einer Sammlung literarischer Kolumnen handelt, die die Autorin erstmalig in Psychologie Heute veröffentlicht und für die Buchausgabe überarbeitet hat.

Worum geht’s?

Leky erzählt in ihren Texten von Gesprächen und Erlebnissen mit Menschen aus ihrem Freundeskreis, ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft. Im Zentrum steht jeweils ein psychologisches Thema: Einmal tauscht sie sich mit ihrer Nachbarin Frau Wiese über die Unannehmlichkeiten der Schlaflosigkeit aus, dann wieder erzählt ihr Freund Tobias ihr von seinem Zwang, vor jedem Verlassen des Hauses zwölf Mal den längst ausgeschalteten Herd kontrollieren zu müssen. Ab und zu geht es um Begegnungen mit Fremden, etwa mit einem Orthopäden, von dem sich die Autorin sehnlichst eine Schmerzspritze wünscht, der ihr aber stattdessen mit hintergründigem Lächeln und überschaubarem Therapieerfolg nur empfiehlt, in ihr lädiertes Knie „hineinzuspüren“.

Anders als man vermuten könnte, hat Leky selbst gar keine psychologische Ausbildung, sondern eine Buchhandelslehre und ein Kulturjournalismusstudium absolviert. Dafür scheint jedoch ihre halbe Verwandtschaft aus Psychotherapeutinnen und Analytikern zu bestehen – ein Umstand, den man vermutlich erst mal verarbeiten muss. 😉

Stilistisches et cetera

Eine unterhaltsame und handwerklich gut gemachte Kolumne wird ja in Zeitschriften häufig als Erstes gelesen. Jedenfalls mache ich das so, und wäre ich eine regelmäßige Leserin von Psychologie Heute, hätte ich es in diesem Fall definitiv getan! Jede Geschichte stellt ein in sich rundes kleines Kunstwerk dar, vorbildlich entlang des obligatorischen roten Fadens erzählt und gern mit einer auf den Textanfang bezogenen Schlusspointe garniert.

Auch im Detail trifft die Autorin mit ihrer Art, sich auszudrücken, mit dieser Mischung aus Melancholie und Witzigkeit, meinen Lesegeschmack wieder zu 100 Prozent. Ebenso lakonisch wie geschliffen beschreibt sie die Qualen durchwachter Nächte, in denen unter Umständen nicht nur echte unbezahlte Rechnungen das Gedankenkarussell antreiben:

In schlaflosen Nächten wimmelt es von Mahnungen, sie segeln von oben aufs Bett herunter und sind ohne Unterschrift gültig. Leider haben Sie trotz mehrfacher Aufforderung die Muskelaufbauübungen für den unteren Rücken erneut nicht gemacht. Leider haben Sie es zum wiederholten Mal versäumt, Ihre unglückliche Tante Traudl zurückzurufen. […] Leider haben Sie es trotz mehrfacher Mahnungen versäumt, nicht alles falsch zu machen.

(S. 17)

Jaja, Mahnungen dieser Art haben vermutlich die meisten von uns schon mal erhalten …

Was gibt es noch zu sagen?

Erst durch die Textsorte Kolumne ist mir klargeworden, wie sehr mich Mariana Leky an den ebenfalls verehrungswürdigen Axel Hacke erinnert. Seine Werke, etwa die Kolumnensammlung Das Beste aus meinem Leben, sein Deutschlandalbum oder die Wumbaba-Reihe, sind von einer ganz besonderen Schreibe geprägt, die journalistisch präzise, mitunter flapsig und im nächsten Moment fast wieder übertrieben elaboriert daherkommt. Siehe Leky: Frau Wiese und sie sitzen übermüdet im Treppenhaus „wie zwei windschiefe Eulen“, aber die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn löst bei ihr nicht einfach „Stress“, sondern eine „kapitale Unrast“ aus. Das könnte so oder ähnlich auch von Hacke stammen.

Ach so, da ich gerade schon beim Erinnern bin: Kummer aller Art erinnert nicht zuletzt an Leky selbst. Genauer gesagt hat ihr Nachbar Herr Pohl eventuell einiges mit dem Optiker aus Was man von hier aus sehen kann gemeinsam, während mich die Beschreibungen von Therapiemaßnahmen zur Bekämpfung von Angststörungen an Szenen aus Erste Hilfe denken ließen. Und da ich diese Bücher so mag, waren das logischerweise ausgesprochen angenehme Erinnerungen.

Wem gefällt’s?

Das ist eigentlich schon beantwortet: Mariana-Leky-Fans, Axel-Hacke-Fans und allen, die in Zeitschriften immer zuerst zur Kolumne blättern – sofern sie richtig gut ist.

Wolf Haas: Müll (Hoffmann und Campe)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Müll“ von Wolf Haas

Vom Kripomann zum Mistler

So viel vorweg

Ja, schon wieder ein Krimi! Ich hätte ihn vielleicht gar nicht gelesen, wenn er nicht von meinem großen Vorbild Axel Hacke empfohlen worden wäre. Wurde er aber, und das war sehr gut so! Denn obwohl es erwartungsgemäß auch in diesem Krimi um menschliche Abgründe geht, habe ich mich beim Lesen wieder köstlich amüsiert. Wenn jemand so übertrieben kauzig schreibt, kann ich leider nicht ernst bleiben, Mord hin, Leiche her.

Worum geht’s?

Um den neuesten Fall des Wiener Polizisten Brenner, der eigentlich gar kein Polizist mehr ist, sondern Müllmann – auf gut Österreichisch „Mistler“. Auf seinem Recyclinghof tauchen eines Tages zwischen Elektroschrott, Styropor und Bioabfällen die Einzelteile einer Leiche auf. Kurz darauf, nämlich genau „eine Viertelstunde nach dem ersten Knie“, treffen die Kripobeamten Savic und Kopf ein. Sonnenklar, dass die beiden bei der Aufklärung des Falls durch den früheren Kollegen Brenner unterstützt werden. Letzterer zeichnet sich übrigens durch eine gewisse, sagen wir, moralische Flexibilität aus … Was das bedeutet und was die Recyclinghof-Besucherin Iris, der Praktikant Coco und das Transportunternehmen Tobias mit dem zerstückelten Toten zu tun haben, wird hier nicht verraten. Klar ist jedenfalls: Man möchte dieses Buch kaum aus der Hand legen.

Stilistisches et cetera

Der Schreibstil ist eine echte Ausnahmeerscheinung: Als Leser/-in wird man von der auktorialen Erzählinstanz geduzt! So was ist mir in einem Krimi überhaupt noch nie begegnet. Zudem ist die Ausdrucksweise geprägt von Umgangssprache und Ellipsen, es gibt jede Menge Kommentare und Bewertungen, die Erzählinstanz verschweigt Details, dann wieder verplappert sie sich. Man hat immer das Gefühl, mit ihr am Küchentisch zu sitzen und die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes erzählt zu bekommen:

Aber der jetzige Praktikant hat [den Mistlern] Rätsel aufgegeben. Weil der war zaundürr, keine Statur, kein Garnichts, bei dem hast du dich wirklich gefragt, wie er es schafft, ohne Wirbelsäulenschaden seinen Haarknödel zu tragen, aber der hat Damenbesuch gehabt, das glaubst du nicht.

(S. 41 f.)

Auch genau solche wiederkehrenden Floskeln von „das glaubst du nicht“ über „jetzt musst du eines wissen“ bis hin zu „mein lieber Schwan“ und „frage nicht“ sind ein wahres Fest. Alles in allem habe ich mich während der Lektüre dauernd gefragt, was für einem Vogel ich da eigentlich gerade „zuhöre“, konnte mich aber dem makabren Humor nicht entziehen und musste, wie oben erwähnt, öfter und lauter lachen, als es mir angesichts der Textsorte eigentlich angemessen erschien.

Warum noch toll?

Ich könnte mich in langen Reden darüber ergehen, dass das Buch natürlich nicht nur witzig ist, sondern hinter allem Wiener Schmäh auch ernste Töne hervorklingen. Das wäre durchaus zutreffend, wird doch in Müll unter anderem das komplexe Thema Organspende berührt; außerdem spielen schwere Krankheiten, Schuld und Sühne eine Rolle. Da es mir aber derzeit eher nach Humor zumute ist, gebe ich lieber noch ein Beispiel für einen der alltagsphilosophischen Exkurse, mit denen das Buch gespickt ist:

Dem Brenner ist das in seinem Leben schon oft aufgefallen, dass die Leute von der Trauer eine eigene Schönheit bekommen. Da darfst du bei der Beurteilung nie vergessen, vom Menschen die Trauer abzuziehen. Sonst kriegst du ein vollkommen falsches Bild und verliebst dich in die Trauer statt in den Menschen, und später entpuppt sich der als fröhlicher Kobold.

(S. 80)

Angesichts solcher Sätze erstaunt es mich nicht weiter, dass Müll bereits der neunte (!) Band der Brenner-Serie von Wolf Haas ist. Denn da steckt schon ein gewaltiges Suchtpotenzial drin, mein lieber Schwan.

Wem gefällt’s?

Das ist in diesem Fall recht einfach zu beantworten: allen, denen es bei den beiden Textbeispielen spontan die Mundwinkel nach oben gezogen hat. Wer hingegen dachte: „Hilfe, das ist aber anstrengend“, sollte sich lieber anderweitig umsehen, denn dieser Stil wird wirklich von A bis Z so durchgezogen. Ich persönlich hoffe, dass der Autor in absehbarer Zeit noch einen zehnten Band nachlegt.

Sven Stricker: Sörensen am Ende der Welt (Rowohlt)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Sörensen am Ende der Welt“ von Sven Stricker

Kommissar mit Angststörung

So viel vorweg

Den Autor Sven Stricker hatte ich bis vor Kurzem überhaupt nicht auf dem Schirm. Und das, obwohl ich die 2021 in der ARD ausgestrahlte Verfilmung von Sörensen hat Angst sogar gesehen hatte und ziemlich gut fand. Erst durch den Literaturblog „buchpost“ kam ich auf die Idee, die beiden Folgebände Sörensen fängt Feuer und Sörensen am Ende der Welt zu lesen – nein: zu verschlingen! Denn hier weiß einer wirklich, wie man schreibt.

Worum geht’s?

Um den titelgebenden Kommissar Sörensen, der von einer heftigen Angststörung gebeutelt wird und sich von Hamburg nach Nordfriesland versetzen lässt, um dort endlich ein ruhigeres Leben zu führen. Natürlich geht dieser Plan nicht auf. Kaum in der fiktiven Kleinstadt Katenbüll angekommen, muss Sörensen gemeinsam mit seinem Team einen abstrusen Fall nach dem anderen lösen: Im ersten Teil liegt gleich mal der Bürgermeister ermordet im eigenen Pferdestall. Im zweiten Teil bekommt es die Polizei mit einer verbrecherischen religiösen Sekte zu tun. Und in Sörensen am Ende der Welt spielen einige nicht minder gefährliche Prepper eine prominente Rolle.

So viel kriminelle Energie auf einmal, noch dazu an einem beschaulichen Ort wie Nordfriesland? Ja, das glaubt man irgendwann nicht mehr so richtig, aber die Bücher kokettieren genau damit und machen so die mangelnde Plausibilität verzeihlich. Und überhaupt: In Miss Marples Heimatdorf St. Mary Mead geschehen schließlich auch 16 Morde in 40 Jahren. Hinterfragt das irgendjemand? Eben.

Stilistisches et cetera

Sven Stricker schreibt köstlich. Obwohl die Handlung durchaus schaurig und die Stimmung oft bedrückend ist, musste ich einfach immer wieder kichern. Sätze wie „Eilig stieg [die Kommissarin] aus und sah zu, wie Ólíver davonfuhr“ (jüngst mit großer Langeweile so gelesen in Dunkel von Ragnar Jónasson) gibt es bei Stricker nicht. Wenn Sörensen aus dem Auto aussteigt, klingt das so:

Er schloss den Passat ab, der Boden war lehmig und tief, er versaute sich Schuhwerk und Hosenbeine, über ihnen rasten die Wolken dahin, als hätten sie einen Termin im Erzgebirge und wären spät dran.

(S. 339)

Wie gesagt: Sven Stricker weiß, was es heißt, anschaulich und interessant zu formulieren. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, zumeist jedoch aus der Sicht Sörensens. Besonders dessen innere Monologe, aber auch die Dialoge sind hervorragend gestaltet. Die norddeutsch gefärbte Umgangssprache in den wörtlichen Reden wird keineswegs lästig, sondern ist gut dosiert, macht die Figuren lebendig und erleichtert die Einfühlung.

Warum noch toll?

Sörensen ist der wahrscheinlich authentischste Held, der mir seit Langem begegnet ist. Seine Angststörung wird ebenso glaubhaft dargestellt wie seine Vielschichtigkeit. Obwohl er ständig am Leben leidet wie an einem hohlen Zahn, sich am Abgrund entlangtastet und immer wieder fast abrutscht, gibt er sich nie auf. Über seinem Reden und Handeln liegt ein feiner, melancholischer Humor, der eine unbändige Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Lebensfreude widerspiegelt. Wenn er gereizt ist, erweist sich seine Zündschnur – bei aller Empathie – als ziemlich kurz. In seinem Kopf geht es hin und her zwischen Angst, Ärger über andere und sich selbst, Erinnerungen und messerscharfen Reflexionen. Der Anblick zweier spielender Hunde direkt neben einem Leichenfundort weckt in ihm folgende Gedanken:

Ein gnadenloses Bild. Es bewies, dass es im Angesicht der Natur keinen Unterschied machte, ob man da war oder nicht. Parallelwelten, dachte Sörensen. Es gab unendlich viele Parallelwelten auf engstem Raum. Die einzige Schnittmenge war die Benutzeroberfläche.

(S. 87)

Wem gefällt’s?

Sörensen am Ende der Welt sowie die beiden Vorgängerbände sind etwas für Leute, denen Krimis im sachlich-berichtenden Stil zu langweilig sind. Wer beispielsweise Frank Schätzings Mordshunger gelungen fand – ebenfalls sehr kurzweilig geschrieben und voller witziger Dialoge –, wird Strickers Sörensen-Romane mit Genuss lesen.

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