Rezension von Julia Hartel
Bleiben oder gehen?
So viel vorweg
In Lichtungen, den neuen Roman von Iris Wolff, musste ich mich eine ganze Weile einlesen. Er zeichnet sich durch eine besondere Erzählweise aus, die ihn nicht unmittelbar zugänglich macht, die aber – um das gleich vorauszuschicken – genial ist. Spätestens ab dem letzten Drittel wollte ich mich von der Geschichte und vor allem von Lev, der Hauptfigur, gar nicht mehr verabschieden. Manchmal lohnt es sich eben doch, an einem Roman dranzubleiben, auch wenn er zunächst etwas sperrig erscheint.
Worum geht’s?
Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zur Zeit des Kalten Krieges in einem Dorf in der Maramuresch im Norden Rumäniens beginnt. Dabei passiert das Anfreunden eher unfreiwillig: Lev ist über längere Zeit hinweg ans Bett gefesselt und wird von seiner Mitschülerin Kato mit den Hausaufgaben versorgt. Da sie im Dorf als Außenseiterin gilt, ist er über den regelmäßigen Kontakt anfangs wenig erfreut. Doch eigentlich weiß er genau, dass zwischen ihnen eine besondere Verbindung besteht. So entwickelt sich bald eine tiefe Freundschaft, die Levs und Katos Schulzeit, Levs Militärdienst und das Ende des realsozialistischen Systems in Rumänien überdauert. Als Kato irgendwann beschließt, es Levs Großvater Ferry sowie vielen Landsleuten gleichzutun und in Richtung Westen aufzubrechen, verliert Lev fast den Boden unter den Füßen. Aber Kato hält Kontakt, und schließlich wagt sich Lev ebenfalls ein Stück in die Welt hinaus.
Stilistisches et cetera
Wie eingangs erwähnt, ist es vor allem die Erzählweise, die Wolffs neues Buch so besonders macht. Erzählt wird nämlich in umgekehrter Richtung: Beginnend mit Kapitel 9 bewegt sich die Handlung gegen den Strom der Zeit rückwärts, bis sie bei Levs früherer Kindheit in Kapitel 1 ankommt. Dabei wird die Geschichte immer spannender, da sich Detail um Detail aufklärt und man den Figuren, die in den ersten Kapiteln rätselhaft und fast unnahbar wirken, zusehends näher kommt. Am Ende – das ja eigentlich der Anfang ist – fühlt man sich ihnen dann so verbunden, dass man am liebsten gleich wieder von vorn – also von hinten – mit dem Lesen anfangen möchte.
Dazu trägt nicht zuletzt der bildhafte und gefühlvolle Schreibstil der Autorin bei. Was Lev während der langen Zeit seiner Bettlägerigkeit empfindet, beschreibt Iris Wolff beispielsweise so:
Seine Körpergrenzen begannen zu verschwimmen, wo hörte die Haut auf, und wo begann das Bett? Der Raum gab unter dem Gewicht seines Körpers nach. Er sank. Im Dunkeln war alles fort, das Halt gab, ihm anzeigte, wo oben und unten war, wie sein Körper sich im Raum befand. Er lag auf einem Bett, vielleicht trieb er auch auf einem Fluss, oder er fiel durchs Wasser, immer tiefer.
(S. 203)
Warum noch toll?
Mein Wissen über Rumänien im Allgemeinen und seine einzelnen Regionen im Speziellen hätte ich bislang als eher überschaubar beschrieben. 😉 Der Roman hat mir diesbezüglich einigen Erkenntnisgewinn gebracht, unter anderem dank Passagen wie dieser:
Bis neunzehnhundertneunzehn gehörte Siebenbürgen, ebenso wie die Maramuresch, zu Österreich-Ungarn, erklärte Ferry, dann zum Königreich Rumänien, zwanzig Jahre später wieder Ungarn, vier Jahre später wieder Rumänien. Das alles sei, wie Lev sich vorstellen könne, enervierend gewesen. Jetzt entscheide er selbst.
(S. 239)
Dass die Menschen in der Maramuresch und in Siebenbürgen so oft die Nationalität wechseln mussten, ohne sich je vom Ort ihrer Geburt wegzubewegen, war mir in der Tat nicht bewusst. Auch was die spätere Öffnung der europäischen Grenzen für viele Familien und Freundschaften bedeutete, wurde für mich erst durch die Lektüre so richtig greifbar. Kato zieht es in die Welt hinaus. Lev, der sich mit seiner Heimat und ihrer malerischen Landschaft stark verbunden fühlt, hat die „Hoffnung, bleiben zu können“ (S. 72). So werden äußere Umstände zur Zerreißprobe für eine scheinbar unzerstörbare Beziehung.
Stichwort „Beziehung“: Es wird relativ klar, dass Lev für Kato mehr empfindet als platonische Zuneigung. Wenn es um Erotik geht, bleibt im Buch jedoch auch so einiges im Ungewissen. Angesichts der Tatsache, dass derzeit viele Romane mit expliziten Szenen überfrachtet werden, bis es irgendwann nur noch nervt, fand ich diese Subtilität, das manchmal nur Angedeutete, zwischen den Zeilen Schwebende ausgesprochen angenehm.
Wem gefällt’s?
Lichtungen ist eines der leiseren Bücher, nicht allzu schwer und doch melancholisch und voller Tiefe, im Ansatz vielleicht so ähnlich wie Daheim von Judith Hermann oder Die Glücklichen von Kristine Bilkau. Zugleich ist es aber auch wieder ganz anders, da bei Iris Wolff die individuellen Schicksale eng mit politischen Gegebenheiten verflochten sind. Wärmstens empfehlen kann ich das Buch allen, die Geschichten mit nachdenklichen, tiefgründigen Charakteren mögen.