Marc-Uwe Kling: Views (Ullstein)

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans „Views“ von Marc-Uwe Kling

Drastisch, zeitgeistig, schnörkellos

So viel vorweg

Wer glaubt, mit Views einen typischen Marc-Uwe Kling vor sich zu haben, wird überrascht sein. Ich jedenfalls war es. Als begeisterte Leserin und Hörerin der Känguru-Chroniken nahm ich angesichts der Warnung auf dem Cover sofort einen Ausschlag meines Ironiedetektors wahr (sorry, der war für Fans ;-)). Doch beim Lesen merkte ich schnell: Klings neuestes Werk hat mit dem Känguru, ebenso wie mit QualityLand, nur teilweise zu tun. Und die Warnung ist ernst gemeint!

Worum geht’s?

Im Internet kursiert ein schockierendes Vergewaltigungsvideo. Das Opfer: ein 16-jähriges Mädchen, das zum Zeitpunkt des Erscheinens als vermisst galt. Die Tatverdächtigen: schwarze Männer. Kriminalbeamtin Yasira Saad, in Deutschland geboren und dennoch „Vorzeigemigrantin“ der Behörde, bekommt den politisch brisanten Fall auf den Tisch. Obwohl sie und ihr Team sich mit vollem Einsatz in die Ermittlungen stürzen, will es ihnen nicht gelingen, die Täter ausfindig zu machen. Derweil rufen bereits die ersten Rechtsradikalen zu Demonstrationen und Selbstjustiz auf. Auch Yasira selbst sowie ihre 16-jährige Tochter Zara geraten ins Fadenkreuz einer rechten Gruppierung. Doch schon bald keimt in der Kommissarin in Bezug auf das Video ein ungeheuerlicher Verdacht auf. Leider ist die Beweislage alles andere als eindeutig. Wird man Yasira trotzdem rechtzeitig glauben?

Stilistisches et cetera

Ich habe es schon angedeutet: Im ersten Moment wäre es gar nicht so einfach zu erraten, dass Views von Marc-Uwe Kling stammt, den man doch – sofern man ihn kennt – spontan mit witzigen bzw. satirischen Szenen in Verbindung bringen würde. Im Gegensatz dazu geht es hier inhaltlich sehr ernst zu. Pointierte politisch-philosophische Ergüsse und selbstironische Reflexionen gebildeter, wenn auch etwas arbeitsscheuer Berliner*innen, wie sie in den Känguru-Chroniken vorkommen, bleiben aus. Stattdessen begegnet man die meiste Zeit über tendenziell kurzen, schnörkellos formulierten Sätzen und einigen ziemlich drastischen Szenen, die mir wahrscheinlich in erster Linie wegen ihrer Schonungslosigkeit im Gedächtnis bleiben werden.

Allerdings findet man, sobald man genauer hinschaut, auf sprachlicher Ebene schon den einen oder anderen Hinweis auf den Stil des Autors, etwa wenn im Zusammenhang mit einem Frühstücksbüfett von „bleichen Scheiben“ die Rede ist, „denen jeder ernst zu nehmende Käse mit Empörung die Verwandtschaft absprechen würde“ (S. 70), oder wenn Mitarbeitende eines Start-ups als „PR-Tante“ und „Business-Kasper“ bezeichnet werden (S. 179). Und betrachtet man die großen Themen des Romans, scheint Kling sowieso klar und deutlich als Autor durch. Seine Systemkritik, unter anderem im Zusammenhang mit Medien und Rechtsradikalismus, wird in diesem Fall eben nur ganz anders verpackt.

Warum noch toll?

Weil das Buch einen besonderen Clou enthält, zu dem ich aber nichts weiter sagen kann, wenn ich nicht spoilern will. Verraten sei lediglich, dass Views ein ausgesprochen zeitgeistiges Werk ist, das vieles ganz selbstverständlich mit erwähnt, was gerade aktuell ist, etwa den Angriff auf die Ukraine, MeToo, Fake News oder Tinder. Und dann geht es eben noch um ein ganz bestimmtes anderes Thema, das derzeit viele Gemüter bewegt …

Außerdem ist die Geschichte einfach unglaublich spannend! Da man sprachlich kaum irgendwo hängen bleibt, liest sie sich zügig weg – wobei sich ab einem gewissen Punkt die Ereignisse derart überschlagen, dass man das Buch ohnehin nicht mehr aus der Hand legen könnte.

Wem gefällt’s?

Views ist ein echter Thriller und somit für zartbesaitetere Cosy-Crime-Fans sicher nicht das Richtige. Wer aber normalerweise Fitzek und Konsorten liest und sich zur Abwechslung mal ein wenig abseits vom Mainstream bewegen will, sollte sich Klings neues Buch unbedingt vornehmen.