Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp)

Rezension von Julia Hartel

Die Geschichte eines Querdenkers

So viel vorweg

Biografische Romane lese ich eigentlich gar nicht so gern. Schließlich kann man in Bezug auf die porträtierte Person nie wissen, was man für bare Münze nehmen soll und was der Autor oder die Autorin kurzerhand dazuerfunden hat. Bei Monde vor der Landung von Clemens J. Setz habe ich dann aber doch eine Ausnahme gemacht, da ich mich zuletzt wieder mit einigen Büchern gelangweilt hatte – eine Gefahr, die hier nicht bestand. Wer Indigo gelesen hat, wird verstehen, was ich meine.

Worum geht’s?

Das Buch erzählt die Geschichte des Schriftstellers Peter Bender, geboren 1893 in Bechtheim in Rheinland-Pfalz. Bender war Anhänger der sogenannten Hohlwelt-Theorie, die besagt, dass sich unser Leben nicht auf, sondern in der Erdkugel abspielt, genauer gesagt auf deren Innenwand. Im Zentrum der Hohlkugel befinden sich dieser Theorie zufolge die vergleichsweise winzigen Gestirne.

Bender dient im Ersten Weltkrieg als Fliegerleutnant und zieht sich bei einem Absturz schwere Kopfverletzungen zu. 1917 heiratet er die aus einer jüdischen Familie stammende Charlotte Asch, mit der er einen Sohn und eine Tochter bekommt. Er lebt nun in Worms, gründet dort eine Religionsgemeinschaft namens „Wormser Menschengemeinde“, verfasst Horoskope und den Roman Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit, der 1927 erscheint. Nachdem er schon Anfang der 1920er-Jahre „wegen Gotteslästerung und Verbreitung umtriebiger Geisteshaltung“ für einige Wochen im Gefängnis war, wird er 1941 – inzwischen in bitterer Armut lebend – von den Nazis verhaftet und stirbt im KZ Mauthausen.

Stilistisches et cetera

Wäre Setz kein hervorragender Autor, hätte man ihn 2021 sicherlich nicht mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Die Jury nannte ihn damals einen „Sprachkünstler“ – und das zu Recht. Da sieht eine Gerichtsstenotypistin einen Richter „krummrückig“ an (S. 64), ein anderes Mal wird von Benders Empfinden berichtet, „dass sein Gesicht vollkommen falsch auf den Schädelknochen hing, und er hielt es fest und drückte daran herum“ (S. 97), oder eine Katze flieht „in rein formell wirkender Eile“ in ein anderes Zimmer (S. 235). In der Passage über Benders Zugreise zu Karl Neupert, dem ersten Vertreter der Hohlwelt-Theorie in Deutschland, ist zu lesen:

In Augsburg stieg mit ihm lediglich ein älteres Paar aus, beide aus derselben Knetmasse geformt. Bender segnete sie, lautlos, im Vorbeigehen.

(S. 234)

Ich könnte noch viele Stellen zitieren, aber wahrscheinlich ist schon deutlich geworden, worauf ich hinauswill: Setz hat erfrischend viele unverbrauchte Formulierungen zur Hand. Was besonders unter die Haut geht, sind Benders in Rückblenden geschilderte Kriegserlebnisse. Hunger und Kälte, Bombenexplosionen, verletzte Kameraden – Szenen dieser Art kommen in vielen Büchern und Filmen vor, aber selten konnte ich mir das durch den Kriegswahnsinn verursachte Gehirnchaos so gut vorstellen. Deshalb hier noch ein letztes kurzes Beispiel aus der Passage über Benders letzten Aufklärungsflug:

Es begann mit einem Griff zum Einstellhebel des Reihenbildners. Mit einem was? Einstell…herbel. Jawohl, Reinenbildnerns. Wie ging das Wort? Reihensbilersn. Frechheit.

(S. 97)

Warum noch toll?

Ich habe beim Lesen zu keinem Zeitpunkt so richtig verstanden, wie Bender, Neupert oder ihr amerikanischer Bruder im Geiste, Cyrus Reed Teed, auf ihr Weltbild kamen, doch eines wird im Buch klar: Bender glaubte wirklich daran! Auch andere Theorien – etwa die von den größeren und kleineren Monden, die ab und zu bei uns landen, aufbrechen und neue Lebewesen oder Pflanzen freigeben, oder sein eigenes Konzept der Doppelehe – hielt er für absolut plausibel (und sich selbst für klüger als viele andere Menschen). Die Parallelen zu heutigen Querdenkern sind kaum zu übersehen.

Setz nun gelingt es, wertfrei in einen solchen Geist Einblick zu gewähren. Natürlich kann niemand wissen, was in Peter Benders Gehirn wirklich vor sich ging, wie er tatsächlich sprach und sich verhielt. Die in den dritten Romanteil eingearbeiteten Briefe, Skizzen, Protokolle und sonstigen Originalquellen lassen jedoch den Schluss zu, dass Setz’ Deutungen der Wahrheit ziemlich nahekommen. Offenbar trafen hier Intelligenz, gewisse angeborene Besonderheiten in Bezug auf die Wahrnehmung der Welt sowie unverarbeitete Traumata aufeinander und führten zu den beschriebenen abstrusen Gedankenkonstrukten.

Insgesamt war ich beständig hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit, Amüsiertheit, Mitleid und heiligem Zorn – und demzufolge außerstande, mir über den Protagonisten des Romans ein abschließendes Urteil zu bilden. Das wiederum werte ich aber als Qualitätsmerkmal! Der Mensch ist ein komplexes Wesen, und Clemens J. Setz ist offensichtlich ein Meister darin, diese Komplexität einzufangen.

Wem gefällt’s?

Monde vor der Landung lässt sich wieder einmal schwer mit anderen Romanen vergleichen. Das Buch stellt eine reale und sehr außergewöhnliche Person vor, die ihre Spuren auf (oder in? ;-)) der Welt hinterlassen hat. Dazu kommt die beschriebene starke Sprache. Insgesamt also ein Werk für anspruchsvolle Leser/-innen mit Interesse an der jüngeren deutschen Geschichte.

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