Ray Loriga: Kapitulation (CulturBooks)

Rezension von Julia Hartel

Im gläsernen Käfig

So viel vorweg

Manche Szenen oder Schauplätze aus Büchern haben sich in mein Gedächtnis eingegraben, als hätte ich sie im Film gesehen. Dass es mir mit Kapitulation von Ray Loriga auch so ergehen würde, stand für mich schnell außer Frage, denn der Handlungsschauplatz ist schlichtweg unvergesslich. Das spanische Original des Romans wurde 2017 veröffentlicht und mit dem Premio Alfaguara de Novela ausgezeichnet. Erst im September 2022 erschien die deutsche Version (Übersetzung: Alexander Dobler).

Worum geht’s?

Um einen namenlosen Ich-Erzähler und seine namenlose Frau in einem namenlosen Staat, in dem seit zehn Jahren Krieg herrscht. Das Paar wohnt in einer ländlichen Gegend und hat einen offenbar verwaisten Jungen bei sich aufgenommen, der nicht spricht. Die kleine Familie lebt bescheiden, aber relativ glücklich, bis die Regierung eines Tages eine Umsiedlungsaktion anordnet: Alle Einwohnerinnen und Einwohner des Landes müssen ihre Häuser niederbrennen und in die sogenannte Durchsichtige Stadt umziehen. Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, denn in der Stadt bestehen alle Gebäude und Straßen aus Glas bzw. Polycarbonat. Der Erzähler ist zunächst recht beeindruckt, zumal er fast umgehend eine Arbeitsstelle bekommt und es scheinbar auch sonst niemandem an etwas fehlt. Irgendwann merkt er jedoch, dass an diesem Ort niemals unbequeme Fragen gestellt werden. Als er selbst damit beginnt, offenbart die Stadt ihr wahres Gesicht.

Stilistisches et cetera

Der Held betont selbst immer wieder, dass er ein einfacher Mann sei. Entsprechend schlicht bis derb, aber durchaus reflektiert lässt ihn Loriga über sich und sein Leben in der hoch technisierten Durchsichtigen Stadt erzählen, wo alles so perfekt wirkt und auch in der eigenen Gefühlswelt stets eitel Sonnenschein herrscht. Letzteres findet der Protagonist umso erstaunlicher, als seine Ehefrau ein Verhältnis mit ihrem neuen Arbeitskollegen anfängt und diesen sogar bei sich und ihrem Mann einziehen lässt. Eine konfliktträchtige Situation, doch gegen die Euphorie in dieser Stadt scheint kein Kraut gewachsen zu sein:

Es stimmte zwar, dass ich mir alle Mühe gegeben hatte, mich sämtlichen Herausforderungen meines neuen Lebens zu stellen, seit man mich damals angewiesen hatte, mein eigenes Haus anzuzünden und die Koffer zu packen. Aber niemals hätte ich mir träumen lassen, angesichts so vieler Widrigkeiten so glücklich sein zu können, und das auch noch komplett gegen meinen eigenen Willen.

(S. 136)

Dass dieses „Glücklichsein wider Willen“ funktioniert, hat übrigens einen ganz besonderen Grund, hinter den der Held im Verlauf der Handlung auch noch kommt.

Als Kontrast zu den rätselhaften Glücksgefühlen lässt der Autor zwischen den Zeilen immer wieder eine unterschwellige, vielleicht sogar teils unbewusste Angst spürbar werden. Dies führt beim Lesen zu einer gewissen Nervosität, weil man ständig – und zu Recht – damit rechnet, dass die ganze Sache kippt. Vor allem dieser Kniff lässt einen Lesesog entstehen, der bis zum überraschenden Ende des Buches anhält.

Warum noch toll?

Weil der Roman viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Wird der Staat, in dem der Held lebt, von einem manipulativen totalitären Regime kontrolliert? Oder ist die Geschichte doch eher grundsätzlich als Parabel auf moderne Gesellschaften zu sehen, wie es das Zitat der Jury des Premio Alfaguara de Novela auf der Buchrückseite nahelegt?

Klar ist jedenfalls: Dieser besondere Überwachungsstaat ist kein Ort, an dem man leben möchte. Niemand braucht Geld, weil der Kühlschrank automatisch und nach einem individuellen Ernährungsplan mit gesunden Lebensmitteln gefüllt wird. Es gibt Arbeit und Hobbys, aber diese haben eher den Charakter von Beschäftigungstherapien. Negative Emotionen werden im Keim erstickt. Die einzige Anstrengung, die dem Helden abverlangt wird, besteht darin, sich anzupassen. Aber egal, ob ein Überwachungsstaat oder unsere Gesellschaften im Allgemeinen gemeint sind: Kapitulation warnt eindringlich davor, Werte wie Individualität, Meinungsfreiheit oder die Achtung der Privatsphäre gering zu schätzen.

Wem gefällt’s?

Inhaltlich erinnert Kapitulation an Dystopien wie beispielsweise Fahrenheit 451 aus der Feder von Ray Lorigas Vornamensvetter Ray Bradbury. Auf sprachlich-stilistischer Ebene lassen sich jedoch klare Unterschiede zu diesem Klassiker feststellen: So ist Kapitulation, wie erwähnt, in der Ich-Form verfasst und trägt praktisch keine poetischen Züge. Zudem werden beinahe alle Gespräche in indirekter Rede wiedergegeben. In diesen Stil muss man sich erst ein wenig einfinden, doch wer es vielleicht sowieso etwas schnörkelloser mag, dürfte von der packenden Story fasziniert sein.

Roman Ehrlich: Malé (S. Fischer)

Vom Paradies zum Lost Place

Rezension von Julia Hartel

„Malé“ von Roman Ehrlich.

So viel vorweg

Über Malé, das jüngste Werk von Roman Ehrlich, könnte man wahrscheinlich eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben: Stoff zum Philosophieren und Diskutieren böte es genug. Aber ich habe nun mal versprochen, mich an dieser Stelle kurzzufassen. 😉 Im Folgenden also einige aus meiner Sicht wichtige Punkte – und in dieser Vorbemerkung nur noch der Hinweis: Malé ist definitiv nix für den Mainstream-Geschmack!

Worum geht’s?

Wie der Titel verrät, geht es um Malé, die Hauptstadt der Malediven, jedoch in einer düsteren, zeitlich nicht ganz genau definierten Zukunft; evtl. sind es die frühen 2070er-Jahre. Der Meeresspiegel ist so stark angestiegen, dass die Straßen der Stadt mitunter knietief von verseuchtem und vermülltem Wasser überflutet sind. Einwohner und Touristen sind geflüchtet, gewaltbereite Milizionäre haben die Regierung gestürzt und führen nun selbst das Regiment. Wie bereits einzelne umliegende Atolle wird auch die Hauptinsel früher oder später untergehen.

Trotz alledem treffen in Malé regelmäßig Neuankömmlinge ein: Menschen, die aus den verschiedensten Gründen ihren bisherigen Lebensverhältnissen entkommen wollten oder die im einstigen Paradies nach irgendetwas auf der Suche sind. Allerdings warten hier auf die meisten Aussteigerinnen und Aussteiger neue Schwierigkeiten, unter anderem bestimmte undurchsichtige Gesetze und Hierarchien innerhalb ihrer Community, gegenseitiges Misstrauen, eine gefährliche Droge, die in der Stadt kursiert, und nicht zuletzt der Umstand, dass immer wieder Personen spurlos verschwinden.

Stilistisches et cetera

Roman Ehrlich drückt sich gern sophisticated aus, indem er lange und oft verschachtelte Sätze baut, die einem beim Lesen vollste Konzentration abverlangen. Der meiner Beobachtung nach längste Satz geht über unglaubliche eineinviertel Seiten! Das muss man natürlich mögen, aber ich persönlich finde es ausgesprochen beeindruckend.

Was die Atmosphäre angeht, kam mir mehrmals die Beschreibung „kafkaesk“ in den Sinn – alles, was passiert, wirkt bedeutungsschwer, irgendwie unwirklich und trotzdem bedrohlich. Das gilt besonders für die Szene, in der der Inselarzt vorgestellt wird. Dieser ist offenbar hauptsächlich dafür zuständig, seinen Patienten und sich selbst Ziernarben beizubringen (genau, brrr). Aber auch insgesamt hat das vergiftete, dem Untergang geweihte Malé mit seinen verfallenden Gebäuden etwas von einer Kulisse für einen bösen Traum.

Warum noch toll?

Die Ausgestiegenen auf der Insel sind vermutlich zum größten Teil Intellektuelle, die sich für wahnsinnig reflektiert halten und nicht merken, dass sie sich die meiste Zeit ausschließlich um sich selber drehen. Mir gefällt die subtile Ironie, mit der diese Selbstverliebtheit vorgeführt wird.

Wie angenehm selbstironisch im Gegensatz dazu der Autor sein kann, zeigt sich an Stellen wie dieser, an der er den Lyriker Judy Frank sagen lässt: „Romanschriftsteller sind mir suspekt. Unter denen, die noch festhalten am Schreiben, sind sie fraglos die eitelsten. Diese schreckliche Geste des Geschichtenerzählens. Wer die Welt so wahrnimmt – als einen Haufen guter Geschichten –, dem sollte man eigentlich das Schreiben verbieten.“

Ganz in diesem Sinne ist Malé aber eben auch mehr als „Haufen guter Geschichten“ – wobei die Geschichten der einzelnen Protagonisten zweifelsohne gut sind. Für mich beinhaltet das Buch vor allem eine Warnung: vor den Folgen des ignoranten, ichbezogenen Handelns des Menschen, der seinen Individualismus, seine Suche nach der „blauen Blume“ (übrigens ein wichtiges Motiv im Roman!) oder seine persönlichen Wahrheiten kompromisslos über alles andere stellt. Das ist vielleicht im ersten Moment eine potenziell unerfreuliche Botschaft, aber man muss auch bedenken: Noch ist Malé nicht untergegangen! Noch bestünde also die Chance, dass Ehrlichs Dystopie sich nicht erfüllen muss …

Wem gefällt’s?

Zunächst einmal allen, die sich Gedanken über den Klimawandel machen und die ausbeuterischen Tourismus ablehnen. Abgesehen von diesem inhaltlichen Aspekt werden diejenigen die Lektüre genießen, denen kunstvolle Satzgebilde Freude bereiten.

[Vielen Dank an die S. Fischer Verlag GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]