Kate Atkinson: Weiter Himmel (DuMont)

Rezension von Julia Hartel

Haarsträubend real

So viel vorweg

Kate Atkinson ist eine der bekanntesten britischen Schriftstellerinnen unserer Tage; trotzdem kannte ich von ihr bisher mit Die Unvollendete erst ein einziges Buch. Ihr zuletzt veröffentlichter Roman Weiter Himmel bildet den neuesten Teil ihrer Reihe um den Privatdetektiv Jackson Brodie – und ist irgendwie so ganz anders, als ich erwartet hatte.

Worum geht’s?

Um Mädchenhandel hinter der glänzenden Fassade angepassten Bürgertums. Die wichtigsten Akteure sind drei scheinbar anständige Männer, die mit ihren Familien an der malerischen englischen Ostküste leben und sich regelmäßig zu einer gepflegten Golfpartie in ihrem Club treffen. Von ihren verbrecherischen Nebentätigkeiten ahnt lange Zeit niemand etwas, bis in ihrem Bekanntenkreis ein Mord geschieht und die Polizei doch neugierig wird. Bald stellt sich heraus, dass das Geschäft der drei vor Ort eine bereits jahrzehntealte Geschichte hat, wobei ihre Vorgänger erst zum Teil gefasst und verurteilt wurden.

Der erwähnte Jackson Brodie spielt, obwohl er mit der ganzen Sache eher zufällig in Kontakt kommt, innerhalb der Ermittlungen natürlich bald eine entscheidende Rolle. Erzählt wird jedoch nicht nur aus seiner Perspektive. Vielmehr haben wir es mit extrem vielen Handlungssträngen und Charakteren zu tun, sodass es teilweise gar nicht so einfach ist, den Überblick zu behalten, wer nun wie womit und mit wem zusammenhängt.

Stilistisches et cetera

Kate Atkinson hat ganz offensichtlich eine Vorliebe für Klammern! Jedenfalls verwendet sie überdurchschnittlich häufig welche, um die Handlung mit in der Vergangenheit liegenden kurzen Dialogen, Gedanken von Figuren oder sonstigen Zusatzinformationen anzureichern:

Jackson selbst war einmal tot gewesen. Er war bei einem Zugunglück verletzt worden, und sein Herz hatte ausgesetzt. (»Kurz«, hatte der Arzt in der Notaufnahme gesagt – etwas herablassend Jacksons Ansicht nach.)

(S. 80)

Dieses „Geklammer“, das übrigens in Die Unvollendete ebenfalls zu finden ist, mag vielleicht ganz kurz gewöhnungsbedürftig sein, aber erstaunlicherweise stört es den Fluss von Atkinsons schnörkellos formulierten Sätzen weniger, als man meinen könnte. Und nicht zuletzt ist eine solche Eigenart natürlich auch etwas sehr Charakteristisches.

Beeindruckt hat mich die Erzähltechnik: Hier liegt die Besonderheit darin, dass Szenen gern mehrmals – und zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln – geschildert werden. Dadurch wird Spannung erzeugt: Man will doch wissen, wie es weitergeht! Stattdessen schubst einen die Autorin immer wieder einen Schritt rückwärts! Vor allem jedoch wird das Erzählte auf diese Weise mehrdimensionaler: Wenn man eine Situation sozusagen noch einmal aus einer anderen „Kameraperspektive“ sehen kann, werden plötzlich ganz neue Details erkennbar. Ein richtig guter Effekt!

Was ist noch toll – und was weniger?

Indem sie das Thema Mädchenhandel aufgreift, verarbeitet Atkinson nicht irgendwelche fiktiven Ideen, sondern weist auf eine haarsträubende Realität hin. Insofern fühlt sich ihre Geschichte wesentlich aktueller und relevanter an als so manch anderer Krimi-Plot – obwohl ich bekennen muss, dass ich mich als Leserin hinsichtlich solcher Verbrechen trotzdem machtlos fühle. Gerade in Anbetracht der Wahrscheinlichkeit, dass die Handelnden nach außen hin ein tadelloses Leben führen.

Wirklich kritisieren würde ich an dem Roman aber eigentlich nur die bereits angesprochene Menge an Handlungssträngen. Hier hätte man meines Erachtens durchaus noch etwas ausdünnen und dafür stärker in die Psyche einzelner Charaktere eintauchen können: Was in aller Welt kann einen denkenden Menschen dazu bringen, seinesgleichen wie einen Verkaufsgegenstand zu behandeln?! Die Männer in Weiter Himmel sind gewissenlos und gierig und hatten offenbar das, was man gemeinhin eine „schlechte Kindheit“ nennt. Aber muss da nicht noch mehr dahinterstecken? Das hätte ich gern genauer erfahren.

Alles in allem ist Atkinsons neuestes Werk – entgegen meiner Erwartung – nicht ganz so kreativ und besonders wie ihr Roman Die Unvollendete, der zudem aus meiner Sicht deutlich differenzierter gezeichnete Figuren präsentiert. Dennoch konnte mich Weiter Himmel in Anbetracht der cleveren Erzähltechnik und des ernsten Kernthemas insgesamt überzeugen.

Wem gefällt’s?

Ich wage zu behaupten, dass das Buch so ziemlich allen Fans gut erzählter Krimis gefallen müsste (sofern es auch mal ein paar Seiten mehr sein dürfen – 475 in diesem Fall ;)). Außerdem dürften sich viele von der Tatsache angesprochen fühlen, dass der Roman ohne allzu drastische Gewaltszenen auskommt.

[Vielen Dank an den DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar!]

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