Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Droemer)

Was wäre, wenn …?

Rezension von Julia Hartel

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Droemer)

So viel vorweg

Ich hätte diese Neuerscheinung so gerne in den höchsten Tönen gelobt! Der poetische Titel und der Klappentext haben mich sofort angesprochen. Leider wusste ich beim Lesen von einem viel zu frühen Zeitpunkt an, wie das Ganze ausgehen würde. Insofern mag Die Mitternachtsbibliothek ein kluger Roman sein, in dem viel Gutes steckt – so richtig begeistern konnte er mich aber nicht.

Worum geht’s?

Nora Seed ist kreuzunglücklich mit ihrem Leben. Sie hat das Gefühl, ausschließlich falsche Entscheidungen getroffen zu haben, und sieht keine Zukunftsperspektive mehr. Mit einer Überdosis Tabletten im Magen – und somit quasi auf dem Weg ins Jenseits – gelangt sie in eine Bibliothek, in der die Zeiger immer auf Mitternacht stehen. In dieser Zwischenwelt befinden sich unendlich viele Bücher: allesamt alternative Versionen von Noras Leben, die aufgrund unterschiedlicher Entscheidungen auch jeweils völlig unterschiedlich verlaufen. Nora kann so viele dieser Lebenswege ausprobieren, wie sie möchte – mit der Option, in einem der Paralleluniversen zu bleiben und endlich glücklich zu werden.

Stilistisches et cetera

Haigs Schreibe ist leicht und anschaulich, die Geschichte durchaus einfallsreich und flüssig zu lesen. Es gibt – passend zum Thema – melancholische, aber auch ein paar witzige Stellen. Die oft relativ kurzen, teils sehr kurzen Kapitel ergeben eine mustergültig aufgebaute, klassische „Hero’s Journey“: Während ihrer Heldinnenreise muss Nora konfliktträchtige Situationen bestehen und macht eine Entwicklung durch. So weit, so vorbildlich.

Wären da nicht die Minuspunkte. Das eine Problem ist die oben angesprochene Vorhersehbarkeit. Irgendwie läuft, Heldinnenreise hin oder her, insgesamt alles zu glatt, und es passiert kaum etwas Überraschendes. Vielleicht kenne ich schlichtweg doch schon zu viele Bücher, Filme und Serien, in denen die Idee „Gleiche Zeitspanne –> verschiedene Entscheidungen –> immer anderer Verlauf“ bzw. das Motiv „Paralleluniversen“ vorkommt (zwei von vielen Beispielen wären Die Unvollendete von Kate Atkinson, die ich hier zuletzt kurz erwähnt hatte, oder der Netflix-Knaller Dark). Zum anderen hat das Buch einen gewissen „therapeutischen Touch“. Und das will ich absolut nicht ins Lächerliche ziehen! Man spürt nämlich genau, dass der Autor in der Geschichte viele persönliche Einsichten verarbeitet, die ihm wichtig sind. Und wenn da solche Sachen stehen wie:

„Aber es gibt kein Leben, in dem man immer nur glücklich ist. Und wenn man sich ausmalt, es gebe so ein Leben, wird man im eigenen Leben nur umso unglücklicher“ (S. 204),

… dann ist das bestimmt wahr und richtig. Nur klingt es mir einfach zu wenig nach Roman und dafür zu sehr nach einem Ratgeber aus dem „Lebenshilfe“-Regal in der Buchhandlung.

Warum trotzdem auch toll?

Weil es etliche kleinere Ausflüge in die Philosophie und in die Quantenphysik gibt: Außer Henry David Thoreau – Noras Lieblingsphilosophen – und Erwin Schrödinger werden auch Aristoteles, Nietzsche, Camus und ein paar andere gestreift, es fallen Begriffe wie „Stringtheorie“ und „Gestaltpsychologie“. Das ist wirklich interessant, zumal Haig es schafft, die oft komplizierten Sachverhalte allgemein verständlich wiederzugeben.

Wie viel Herzblut er in den Roman investiert hat, merkt man außerdem an einigen charmanten Details. Beispielsweise beschreibt er ganz überzeugend Noras jeweiliges Körpergefühl in den einzelnen Leben: Im einen ist sie völlig untrainiert, in einem anderen besteht sie nur aus Muskeln. Lustig fand ich auch die Einfälle, sie in einem Leben nichts als Toast essen zu lassen und das Musikgeschäft, das in mehreren Episoden vorkommt, ausgerechnet „String Theory“ zu nennen. 😉

Wem gefällt’s?

Die Mitternachtsbibliothek könnte Menschen, die viel hadern und ständig in der Angst leben, etwas verpasst zu haben, hilfreiche Impulse bieten. Wer hingegen Romane bevorzugt, in denen experimentiert, mit Erwartungen gespielt und an der einen oder anderen Stelle mit Schreibkonventionen gebrochen wird, wäre wohl eher enttäuscht.

[Vielen Dank an den Droemer Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

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