Olga Tokarczuk: Empusion (Kampa)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover Empusion

Schwindsucht, Mansplaining und Kräuterlikör

So viel vorweg

Ein Romanprojekt, das sich laut Klappentext explizit auf Thomas Manns Zauberberg bezieht, würden wohl nicht viele starten. Olga Tokarczuk hat es mit Empusion gewagt. Darf sie auch, könnte man sagen, schließlich hat sie 2019 den Literaturnobelpreis für 2018 bekommen. Ich sage eher: Darf sie auch, denn wer so schreibt, kann es – unabhängig von irgendwelchen Auszeichnungen – locker mit jedem Großmeister aufnehmen.

Worum geht’s?

Es ist das Jahr 1913. Der 24-jährige Mieczysław Wojnicz, Student der Wasser- und Canalisationsbautechnik im polnischen Lemberg, reist nach Görbersdorf in Schlesien, um dort seine Lungenkrankheit behandeln zu lassen. Er logiert im „Gästehaus für Herren“, in dem er gleich am ersten Tag eine verstörende Entdeckung macht: Die Frau des Besitzers hat sich wenige Stunden zuvor das Leben genommen. Für ihren Mann und Mieczysławs Mitpatienten im Gästehaus ist die Sache klar: So etwas Irrationales kann nur eine Frau zustande bringen. Weibliche Gehirne sind eben einfach kleiner als männliche. Solche und ähnliche „Erkenntnisse“ werden zwischen Liegekuren, Spaziergängen und Wasseranwendungen erörtert, nicht ohne dabei üppig zu schmausen und zu trinken. Doch bald stellt sich heraus, dass es in der Gegend um Görbersdorf immer wieder zu rätselhaften Todesfällen kommt. Auch der Protagonist scheint in Gefahr zu schweben. Offenbar ist in dem malerischen Luftkurort – ebenso wie bei Mieczysław selbst – vieles ganz anders, als man auf den ersten Blick meint.

Stilistisches et cetera

Empusion ist ein überaus kluges, ausgezeichnet geschriebenes Buch. In stilistischer Hinsicht changiert es ein wenig: Einerseits werden Handlungsschauplatz und Figuren mit betulicher Sorgfalt beschrieben. Die Leute tragen „seladonfarbene Foulards“ und „Leibröcke“, und sie „perorieren“, wenn sie ihre Weisheiten verbreiten. Andererseits geht es auf erzählerischer Ebene sehr modern zu, indem zum Beispiel schonungslos in private Abgründe geblickt wird. Poetisch und kunstvoll ist die Sprache jedoch immer, wie man schon an solchen Kleinigkeiten wie der Beschreibung des Lichts einer elektrischen Lampe sehen kann:

Der gedämpfte Schein, ein gleichsam erschöpftes, zotteliges Leuchten, ließ den Raum größer wirken, nach allen Richtungen schien er sich zu dehnen, weit in die Tiefe der samtigen Dämmerungen.

(S. 60)

Solche Sätze lassen – bei aller vermutlich beabsichtigten Übertreibung – einfach mein Herz aufgehen. An dieser Stelle übrigens ein großes Kompliment an das Übersetzerduo Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein! Man merkt im Grunde überhaupt nicht, dass man es mit einer Übersetzung zu tun hat.

Mindestens ebenso hingerissen wie vom Stil war ich aber von der Handlung. Schon lange wollte ich nicht mehr so dringend wissen, wie eine Geschichte weiter- und ausgeht und welches Schicksal die Figuren wohl ereilen wird. Besonders der Hauptcharakter, bei dem der Soldatendrill von Vater und Onkel nicht gefruchtet hat und der nicht recht in die Männerrunde des Görbersdorfer Gästehauses passen will, hat es mir angetan. Und auch den schwer an der Schwindsucht erkrankten Künstler Thilo, Mieczysławs einzigen echten Ansprechpartner, kann man nur gernhaben.

Warum noch toll?

Die Männer in Empusion „mansplainen“, was das Zeug hält. Dies tun sie vorzugsweise bei einem oder mehreren Gläschen Kräuterlikör. Dabei wird die Wichtigtuerei etwa eines Longinus Lukas (Gymnasiallehrer aus Königsberg) herrlich ironisiert:

„Die große Zeit des Menschen geht ihrem Ende entgegen, kann das wirklich niemand sehen?“, tönte er durch die Serviette, mit der er sich das von Tomatensoße bekleckerte Kinn abwischte.

(S. 303)

Nicht selten fühlt man sich bei den beschriebenen Symposien (also den geselligen Trinkrunden) an die Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta im Zauberberg erinnert. Der Schwerpunkt bei Tokarczuks Intellektuellen liegt jedoch auf einem ganz bestimmten Thema: den Frauen. Wie Empusen (weibliche Schreckgespenster aus der griechischen Mythologie) geistern sie durch die Geschichte und durch die Männerhirne. So wird denn auch, obwohl man sich über die Minderwertigkeit der Frauen einig ist, auffallend häufig über sie gesprochen.

Bei den frauenverachtenden Äußerungen, die die Autorin ihren Männerfiguren dabei in den Mund legt, handelt es sich übrigens um Paraphrasen von Textpassagen verschiedenster Autoren, darunter Cato der Ältere, Charles Darwin, Jean-Paul Sartre, Otto Weiniger und viele mehr. All das ist – ich sagte es schon – ausgesprochen klug, amüsant und fesselnd.

Umso bedauerlicher fand ich es, dass das Ende des Romans dann doch etwas versponnen wirkt. Spätestens hier wird eingelöst, was der Untertitel „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“ verspricht; es führt aber auch dazu, dass die Erzählung nicht mehr ganz glaubwürdig wirkt. Trotzdem kann ich das Buch insgesamt nur empfehlen!

Wem gefällt’s?

Empusion ist ganz klar ein feministisches Buch und zugleich als Plädoyer für geschlechtliche Vielfalt zu lesen. Gefallen wird es all jenen, die die Kombination aus gehobener Ausdrucksweise und zeitgemäßer Botschaft reizvoll finden. Und wer den Zauberberg kennt, wird Empusion wahrscheinlich sowieso kennenlernen wollen.

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