Arno Frank: Seemann vom Siebener (Tropen)

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans Seemann vom Siebener von Arno Frank


Gerade noch ein Sommerbuch

So viel vorweg

Für die, die es nicht wissen: Der „Seemann“ ist eine Variante des Kopfsprungs, bei der die Arme auf dem Rücken oder am Körper angelegt bleiben. Mir persönlich war das neu, aber ich will es mir mal verzeihen, da der Duden diese zusätzliche Wortbedeutung auch nicht kennt. 😌 Der „Siebener“ wiederum ist eine der Plattformen eines Sprungturms, die sich jedoch streng genommen gar nicht auf 7, sondern auf 7,5 Metern Höhe befindet. Auch das wusste ich nicht, bis ich mir Arno Franks Seemann vom Siebener zu Gemüte geführt hatte. Lesen bildet eben!

Worum geht’s?

Es ist der letzte Freitag der Sommerferien, und die Menschen in Ottersweiler sehnen sich nach Abkühlung. So zieht es viele von ihnen ins örtliche Freibad, das voller Geschichten und Erinnerungen steckt. Josefine und Lennart zum Beispiel waren schon während ihrer Schulzeit regelmäßig hier – damals allerdings noch gemeinsam mit Max. Isobel, deren verstorbener Mann das Bad einst geplant hat, kommt sowieso täglich her, wobei sie sich in letzter Zeit immer häufiger in der Vergangenheit verheddert. Kiontke, der Bademeister, ist ebenfalls stets auf dem Gelände anzutreffen. Dabei finden manche Leute, dass er nach dem Unglück damals seinen Job hätte wechseln sollen. Und auch für die namenlos bleibende Ich-Erzählerin mit dem frisch rasierten Kopf hat das Bad eine besondere Bedeutung. Sie hat hier nämlich heute etwas vor – wird sie es schaffen?

Zuerst die Minuspunkte

Obwohl Seemann vom Siebener ohne Frage ein Roman mit Tiefgang ist, war ich nach der Lektüre teilweise unzufrieden. Das lag nicht daran, dass das Erzähltempo aufgrund der zahlreichen Rückblenden vergleichsweise langsam ist; der Punkt war eher, dass mir zu vieles angerissen und dann doch nicht zu Ende gebracht wurde. Manche Handlungsstränge scheinen etwas zu „versanden“. Zudem begibt sich der Autor teilweise ein gutes Stück hinunter in die Abgründe der menschlichen Psyche, verschweigt dabei aber Hintergrundinformationen (vor allem zur Ich-Erzählerin und ihrer Mutter). Möglich, dass deshalb manche Handlungen seiner Figuren nicht ganz glaubwürdig wirken. Natürlich muss in einem Roman keineswegs immer alles aufgelöst werden, aber ich wäre mitunter gern mehr an die Hand genommen worden, um die Geschichte besser zu verstehen.

Und trotzdem …

… ist das Buch definitiv lesenswert! Die vielen Geheimnisse, die die Protagonistinnen und Protagonisten mit sich herumtragen, sorgen für Spannung, ihre (Selbst-)Reflexionen für den erwähnten Tiefgang. Auch das Setting – das Freibad der fiktiven Kleinstadt als einziger Handlungsschauplatz, an dem an nur einem Tag mehrere Stränge zusammenlaufen – ist gut gewählt.

Nicht zuletzt überzeugt mich Arno Franks starke Sprache, die sachlich und bildhaft zugleich ist und auf den journalistischen Hintergrund des Autors hindeutet. Besonders gut gefällt mir die Idee, im Falle der meisten Figuren die personale Perspektive zu wählen und nur eine von ihnen in Ich-Form erzählen zu lassen. Vor allem bei ihr sitzt jedes Wort. Doch auch Lennart, der als erfolgreicher Fotograf weit herumgekommen ist, bringt die Dinge gut auf den Punkt:

Lennart lässt den Blick über das Freibad schweifen. Alles ist so, wie es war. Gleiche Größe, gleiches Gewicht. Wie kann das sein? Dort, die alte Linde, eine lautlose Explosion in Grün, ist sogar noch größer geworden in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Unheimlich, denkt er, wie wir als Kinder höchstens in Monaten rechnen, später dann in Jahren, irgendwann sogar in Jahrzehnten. Und plötzlich ist ein Vierteljahrhundert verstrichen […]. Kein Wunder, dass man den Moment so gerne festhalten möchte.

(S. 57)

Wem gefällt’s?

Im Hinblick auf die episodische Erzählstruktur – eine Technik, die ich sehr mag – hat mich Seemann vom Siebener ein bisschen an Katharina Hagenas Geräusch des Lichts erinnert. Allerdings ist bei Arno Frank das Ende deutlich offener gehalten. Insgesamt ein Buch, das Stoff zum Nachdenken liefert, aber trotzdem gerade noch als Sommerbuch durchgeht.

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp)

Rezension von Julia Hartel

Die Geschichte eines Querdenkers

So viel vorweg

Biografische Romane lese ich eigentlich gar nicht so gern. Schließlich kann man in Bezug auf die porträtierte Person nie wissen, was man für bare Münze nehmen soll und was der Autor oder die Autorin kurzerhand dazuerfunden hat. Bei Monde vor der Landung von Clemens J. Setz habe ich dann aber doch eine Ausnahme gemacht, da ich mich zuletzt wieder mit einigen Büchern gelangweilt hatte – eine Gefahr, die hier nicht bestand. Wer Indigo gelesen hat, wird verstehen, was ich meine.

Worum geht’s?

Das Buch erzählt die Geschichte des Schriftstellers Peter Bender, geboren 1893 in Bechtheim in Rheinland-Pfalz. Bender war Anhänger der sogenannten Hohlwelt-Theorie, die besagt, dass sich unser Leben nicht auf, sondern in der Erdkugel abspielt, genauer gesagt auf deren Innenwand. Im Zentrum der Hohlkugel befinden sich dieser Theorie zufolge die vergleichsweise winzigen Gestirne.

Bender dient im Ersten Weltkrieg als Fliegerleutnant und zieht sich bei einem Absturz schwere Kopfverletzungen zu. 1917 heiratet er die aus einer jüdischen Familie stammende Charlotte Asch, mit der er einen Sohn und eine Tochter bekommt. Er lebt nun in Worms, gründet dort eine Religionsgemeinschaft namens „Wormser Menschengemeinde“, verfasst Horoskope und den Roman Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit, der 1927 erscheint. Nachdem er schon Anfang der 1920er-Jahre „wegen Gotteslästerung und Verbreitung umtriebiger Geisteshaltung“ für einige Wochen im Gefängnis war, wird er 1941 – inzwischen in bitterer Armut lebend – von den Nazis verhaftet und stirbt im KZ Mauthausen.

Stilistisches et cetera

Wäre Setz kein hervorragender Autor, hätte man ihn 2021 sicherlich nicht mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Die Jury nannte ihn damals einen „Sprachkünstler“ – und das zu Recht. Da sieht eine Gerichtsstenotypistin einen Richter „krummrückig“ an (S. 64), ein anderes Mal wird von Benders Empfinden berichtet, „dass sein Gesicht vollkommen falsch auf den Schädelknochen hing, und er hielt es fest und drückte daran herum“ (S. 97), oder eine Katze flieht „in rein formell wirkender Eile“ in ein anderes Zimmer (S. 235). In der Passage über Benders Zugreise zu Karl Neupert, dem ersten Vertreter der Hohlwelt-Theorie in Deutschland, ist zu lesen:

In Augsburg stieg mit ihm lediglich ein älteres Paar aus, beide aus derselben Knetmasse geformt. Bender segnete sie, lautlos, im Vorbeigehen.

(S. 234)

Ich könnte noch viele Stellen zitieren, aber wahrscheinlich ist schon deutlich geworden, worauf ich hinauswill: Setz hat erfrischend viele unverbrauchte Formulierungen zur Hand. Was besonders unter die Haut geht, sind Benders in Rückblenden geschilderte Kriegserlebnisse. Hunger und Kälte, Bombenexplosionen, verletzte Kameraden – Szenen dieser Art kommen in vielen Büchern und Filmen vor, aber selten konnte ich mir das durch den Kriegswahnsinn verursachte Gehirnchaos so gut vorstellen. Deshalb hier noch ein letztes kurzes Beispiel aus der Passage über Benders letzten Aufklärungsflug:

Es begann mit einem Griff zum Einstellhebel des Reihenbildners. Mit einem was? Einstell…herbel. Jawohl, Reinenbildnerns. Wie ging das Wort? Reihensbilersn. Frechheit.

(S. 97)

Warum noch toll?

Ich habe beim Lesen zu keinem Zeitpunkt so richtig verstanden, wie Bender, Neupert oder ihr amerikanischer Bruder im Geiste, Cyrus Reed Teed, auf ihr Weltbild kamen, doch eines wird im Buch klar: Bender glaubte wirklich daran! Auch andere Theorien – etwa die von den größeren und kleineren Monden, die ab und zu bei uns landen, aufbrechen und neue Lebewesen oder Pflanzen freigeben, oder sein eigenes Konzept der Doppelehe – hielt er für absolut plausibel (und sich selbst für klüger als viele andere Menschen). Die Parallelen zu heutigen Querdenkern sind kaum zu übersehen.

Setz nun gelingt es, wertfrei in einen solchen Geist Einblick zu gewähren. Natürlich kann niemand wissen, was in Peter Benders Gehirn wirklich vor sich ging, wie er tatsächlich sprach und sich verhielt. Die in den dritten Romanteil eingearbeiteten Briefe, Skizzen, Protokolle und sonstigen Originalquellen lassen jedoch den Schluss zu, dass Setz’ Deutungen der Wahrheit ziemlich nahekommen. Offenbar trafen hier Intelligenz, gewisse angeborene Besonderheiten in Bezug auf die Wahrnehmung der Welt sowie unverarbeitete Traumata aufeinander und führten zu den beschriebenen abstrusen Gedankenkonstrukten.

Insgesamt war ich beständig hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit, Amüsiertheit, Mitleid und heiligem Zorn – und demzufolge außerstande, mir über den Protagonisten des Romans ein abschließendes Urteil zu bilden. Das wiederum werte ich aber als Qualitätsmerkmal! Der Mensch ist ein komplexes Wesen, und Clemens J. Setz ist offensichtlich ein Meister darin, diese Komplexität einzufangen.

Wem gefällt’s?

Monde vor der Landung lässt sich wieder einmal schwer mit anderen Romanen vergleichen. Das Buch stellt eine reale und sehr außergewöhnliche Person vor, die ihre Spuren auf (oder in? ;-)) der Welt hinterlassen hat. Dazu kommt die beschriebene starke Sprache. Insgesamt also ein Werk für anspruchsvolle Leser/-innen mit Interesse an der jüngeren deutschen Geschichte.

Ray Loriga: Kapitulation (CulturBooks)

Rezension von Julia Hartel

Im gläsernen Käfig

So viel vorweg

Manche Szenen oder Schauplätze aus Büchern haben sich in mein Gedächtnis eingegraben, als hätte ich sie im Film gesehen. Dass es mir mit Kapitulation von Ray Loriga auch so ergehen würde, stand für mich schnell außer Frage, denn der Handlungsschauplatz ist schlichtweg unvergesslich. Das spanische Original des Romans wurde 2017 veröffentlicht und mit dem Premio Alfaguara de Novela ausgezeichnet. Erst im September 2022 erschien die deutsche Version (Übersetzung: Alexander Dobler).

Worum geht’s?

Um einen namenlosen Ich-Erzähler und seine namenlose Frau in einem namenlosen Staat, in dem seit zehn Jahren Krieg herrscht. Das Paar wohnt in einer ländlichen Gegend und hat einen offenbar verwaisten Jungen bei sich aufgenommen, der nicht spricht. Die kleine Familie lebt bescheiden, aber relativ glücklich, bis die Regierung eines Tages eine Umsiedlungsaktion anordnet: Alle Einwohnerinnen und Einwohner des Landes müssen ihre Häuser niederbrennen und in die sogenannte Durchsichtige Stadt umziehen. Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, denn in der Stadt bestehen alle Gebäude und Straßen aus Glas bzw. Polycarbonat. Der Erzähler ist zunächst recht beeindruckt, zumal er fast umgehend eine Arbeitsstelle bekommt und es scheinbar auch sonst niemandem an etwas fehlt. Irgendwann merkt er jedoch, dass an diesem Ort niemals unbequeme Fragen gestellt werden. Als er selbst damit beginnt, offenbart die Stadt ihr wahres Gesicht.

Stilistisches et cetera

Der Held betont selbst immer wieder, dass er ein einfacher Mann sei. Entsprechend schlicht bis derb, aber durchaus reflektiert lässt ihn Loriga über sich und sein Leben in der hoch technisierten Durchsichtigen Stadt erzählen, wo alles so perfekt wirkt und auch in der eigenen Gefühlswelt stets eitel Sonnenschein herrscht. Letzteres findet der Protagonist umso erstaunlicher, als seine Ehefrau ein Verhältnis mit ihrem neuen Arbeitskollegen anfängt und diesen sogar bei sich und ihrem Mann einziehen lässt. Eine konfliktträchtige Situation, doch gegen die Euphorie in dieser Stadt scheint kein Kraut gewachsen zu sein:

Es stimmte zwar, dass ich mir alle Mühe gegeben hatte, mich sämtlichen Herausforderungen meines neuen Lebens zu stellen, seit man mich damals angewiesen hatte, mein eigenes Haus anzuzünden und die Koffer zu packen. Aber niemals hätte ich mir träumen lassen, angesichts so vieler Widrigkeiten so glücklich sein zu können, und das auch noch komplett gegen meinen eigenen Willen.

(S. 136)

Dass dieses „Glücklichsein wider Willen“ funktioniert, hat übrigens einen ganz besonderen Grund, hinter den der Held im Verlauf der Handlung auch noch kommt.

Als Kontrast zu den rätselhaften Glücksgefühlen lässt der Autor zwischen den Zeilen immer wieder eine unterschwellige, vielleicht sogar teils unbewusste Angst spürbar werden. Dies führt beim Lesen zu einer gewissen Nervosität, weil man ständig – und zu Recht – damit rechnet, dass die ganze Sache kippt. Vor allem dieser Kniff lässt einen Lesesog entstehen, der bis zum überraschenden Ende des Buches anhält.

Warum noch toll?

Weil der Roman viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Wird der Staat, in dem der Held lebt, von einem manipulativen totalitären Regime kontrolliert? Oder ist die Geschichte doch eher grundsätzlich als Parabel auf moderne Gesellschaften zu sehen, wie es das Zitat der Jury des Premio Alfaguara de Novela auf der Buchrückseite nahelegt?

Klar ist jedenfalls: Dieser besondere Überwachungsstaat ist kein Ort, an dem man leben möchte. Niemand braucht Geld, weil der Kühlschrank automatisch und nach einem individuellen Ernährungsplan mit gesunden Lebensmitteln gefüllt wird. Es gibt Arbeit und Hobbys, aber diese haben eher den Charakter von Beschäftigungstherapien. Negative Emotionen werden im Keim erstickt. Die einzige Anstrengung, die dem Helden abverlangt wird, besteht darin, sich anzupassen. Aber egal, ob ein Überwachungsstaat oder unsere Gesellschaften im Allgemeinen gemeint sind: Kapitulation warnt eindringlich davor, Werte wie Individualität, Meinungsfreiheit oder die Achtung der Privatsphäre gering zu schätzen.

Wem gefällt’s?

Inhaltlich erinnert Kapitulation an Dystopien wie beispielsweise Fahrenheit 451 aus der Feder von Ray Lorigas Vornamensvetter Ray Bradbury. Auf sprachlich-stilistischer Ebene lassen sich jedoch klare Unterschiede zu diesem Klassiker feststellen: So ist Kapitulation, wie erwähnt, in der Ich-Form verfasst und trägt praktisch keine poetischen Züge. Zudem werden beinahe alle Gespräche in indirekter Rede wiedergegeben. In diesen Stil muss man sich erst ein wenig einfinden, doch wer es vielleicht sowieso etwas schnörkelloser mag, dürfte von der packenden Story fasziniert sein.

Mariana Leky: Kummer aller Art (DuMont)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Kummer aller Art“ von Mariana Leky

Ein Bändchen voller Kunstwerke

So viel vorweg

Meine Lieblingsautorin Mariana Leky hatte so lange kein neues Buch mehr herausgebracht, dass ich schon ganz zappelig war. Umso tragischer, dass ich Kummer aller Art dann gleich wieder in gefühlten 20 Minuten durchgelesen hatte. Dazu muss aber gesagt werden, dass es sich diesmal nicht um einen 300-Seiten-Roman, sondern um einen (leider!) eher schmalen Band mit einer Sammlung literarischer Kolumnen handelt, die die Autorin erstmalig in Psychologie Heute veröffentlicht und für die Buchausgabe überarbeitet hat.

Worum geht’s?

Leky erzählt in ihren Texten von Gesprächen und Erlebnissen mit Menschen aus ihrem Freundeskreis, ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft. Im Zentrum steht jeweils ein psychologisches Thema: Einmal tauscht sie sich mit ihrer Nachbarin Frau Wiese über die Unannehmlichkeiten der Schlaflosigkeit aus, dann wieder erzählt ihr Freund Tobias ihr von seinem Zwang, vor jedem Verlassen des Hauses zwölf Mal den längst ausgeschalteten Herd kontrollieren zu müssen. Ab und zu geht es um Begegnungen mit Fremden, etwa mit einem Orthopäden, von dem sich die Autorin sehnlichst eine Schmerzspritze wünscht, der ihr aber stattdessen mit hintergründigem Lächeln und überschaubarem Therapieerfolg nur empfiehlt, in ihr lädiertes Knie „hineinzuspüren“.

Anders als man vermuten könnte, hat Leky selbst gar keine psychologische Ausbildung, sondern eine Buchhandelslehre und ein Kulturjournalismusstudium absolviert. Dafür scheint jedoch ihre halbe Verwandtschaft aus Psychotherapeutinnen und Analytikern zu bestehen – ein Umstand, den man vermutlich erst mal verarbeiten muss. 😉

Stilistisches et cetera

Eine unterhaltsame und handwerklich gut gemachte Kolumne wird ja in Zeitschriften häufig als Erstes gelesen. Jedenfalls mache ich das so, und wäre ich eine regelmäßige Leserin von Psychologie Heute, hätte ich es in diesem Fall definitiv getan! Jede Geschichte stellt ein in sich rundes kleines Kunstwerk dar, vorbildlich entlang des obligatorischen roten Fadens erzählt und gern mit einer auf den Textanfang bezogenen Schlusspointe garniert.

Auch im Detail trifft die Autorin mit ihrer Art, sich auszudrücken, mit dieser Mischung aus Melancholie und Witzigkeit, meinen Lesegeschmack wieder zu 100 Prozent. Ebenso lakonisch wie geschliffen beschreibt sie die Qualen durchwachter Nächte, in denen unter Umständen nicht nur echte unbezahlte Rechnungen das Gedankenkarussell antreiben:

In schlaflosen Nächten wimmelt es von Mahnungen, sie segeln von oben aufs Bett herunter und sind ohne Unterschrift gültig. Leider haben Sie trotz mehrfacher Aufforderung die Muskelaufbauübungen für den unteren Rücken erneut nicht gemacht. Leider haben Sie es zum wiederholten Mal versäumt, Ihre unglückliche Tante Traudl zurückzurufen. […] Leider haben Sie es trotz mehrfacher Mahnungen versäumt, nicht alles falsch zu machen.

(S. 17)

Jaja, Mahnungen dieser Art haben vermutlich die meisten von uns schon mal erhalten …

Was gibt es noch zu sagen?

Erst durch die Textsorte Kolumne ist mir klargeworden, wie sehr mich Mariana Leky an den ebenfalls verehrungswürdigen Axel Hacke erinnert. Seine Werke, etwa die Kolumnensammlung Das Beste aus meinem Leben, sein Deutschlandalbum oder die Wumbaba-Reihe, sind von einer ganz besonderen Schreibe geprägt, die journalistisch präzise, mitunter flapsig und im nächsten Moment fast wieder übertrieben elaboriert daherkommt. Siehe Leky: Frau Wiese und sie sitzen übermüdet im Treppenhaus „wie zwei windschiefe Eulen“, aber die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn löst bei ihr nicht einfach „Stress“, sondern eine „kapitale Unrast“ aus. Das könnte so oder ähnlich auch von Hacke stammen.

Ach so, da ich gerade schon beim Erinnern bin: Kummer aller Art erinnert nicht zuletzt an Leky selbst. Genauer gesagt hat ihr Nachbar Herr Pohl eventuell einiges mit dem Optiker aus Was man von hier aus sehen kann gemeinsam, während mich die Beschreibungen von Therapiemaßnahmen zur Bekämpfung von Angststörungen an Szenen aus Erste Hilfe denken ließen. Und da ich diese Bücher so mag, waren das logischerweise ausgesprochen angenehme Erinnerungen.

Wem gefällt’s?

Das ist eigentlich schon beantwortet: Mariana-Leky-Fans, Axel-Hacke-Fans und allen, die in Zeitschriften immer zuerst zur Kolumne blättern – sofern sie richtig gut ist.

Wolf Haas: Müll (Hoffmann und Campe)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Müll“ von Wolf Haas

Vom Kripomann zum Mistler

So viel vorweg

Ja, schon wieder ein Krimi! Ich hätte ihn vielleicht gar nicht gelesen, wenn er nicht von meinem großen Vorbild Axel Hacke empfohlen worden wäre. Wurde er aber, und das war sehr gut so! Denn obwohl es erwartungsgemäß auch in diesem Krimi um menschliche Abgründe geht, habe ich mich beim Lesen wieder köstlich amüsiert. Wenn jemand so übertrieben kauzig schreibt, kann ich leider nicht ernst bleiben, Mord hin, Leiche her.

Worum geht’s?

Um den neuesten Fall des Wiener Polizisten Brenner, der eigentlich gar kein Polizist mehr ist, sondern Müllmann – auf gut Österreichisch „Mistler“. Auf seinem Recyclinghof tauchen eines Tages zwischen Elektroschrott, Styropor und Bioabfällen die Einzelteile einer Leiche auf. Kurz darauf, nämlich genau „eine Viertelstunde nach dem ersten Knie“, treffen die Kripobeamten Savic und Kopf ein. Sonnenklar, dass die beiden bei der Aufklärung des Falls durch den früheren Kollegen Brenner unterstützt werden. Letzterer zeichnet sich übrigens durch eine gewisse, sagen wir, moralische Flexibilität aus … Was das bedeutet und was die Recyclinghof-Besucherin Iris, der Praktikant Coco und das Transportunternehmen Tobias mit dem zerstückelten Toten zu tun haben, wird hier nicht verraten. Klar ist jedenfalls: Man möchte dieses Buch kaum aus der Hand legen.

Stilistisches et cetera

Der Schreibstil ist eine echte Ausnahmeerscheinung: Als Leser/-in wird man von der auktorialen Erzählinstanz geduzt! So was ist mir in einem Krimi überhaupt noch nie begegnet. Zudem ist die Ausdrucksweise geprägt von Umgangssprache und Ellipsen, es gibt jede Menge Kommentare und Bewertungen, die Erzählinstanz verschweigt Details, dann wieder verplappert sie sich. Man hat immer das Gefühl, mit ihr am Küchentisch zu sitzen und die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes erzählt zu bekommen:

Aber der jetzige Praktikant hat [den Mistlern] Rätsel aufgegeben. Weil der war zaundürr, keine Statur, kein Garnichts, bei dem hast du dich wirklich gefragt, wie er es schafft, ohne Wirbelsäulenschaden seinen Haarknödel zu tragen, aber der hat Damenbesuch gehabt, das glaubst du nicht.

(S. 41 f.)

Auch genau solche wiederkehrenden Floskeln von „das glaubst du nicht“ über „jetzt musst du eines wissen“ bis hin zu „mein lieber Schwan“ und „frage nicht“ sind ein wahres Fest. Alles in allem habe ich mich während der Lektüre dauernd gefragt, was für einem Vogel ich da eigentlich gerade „zuhöre“, konnte mich aber dem makabren Humor nicht entziehen und musste, wie oben erwähnt, öfter und lauter lachen, als es mir angesichts der Textsorte eigentlich angemessen erschien.

Warum noch toll?

Ich könnte mich in langen Reden darüber ergehen, dass das Buch natürlich nicht nur witzig ist, sondern hinter allem Wiener Schmäh auch ernste Töne hervorklingen. Das wäre durchaus zutreffend, wird doch in Müll unter anderem das komplexe Thema Organspende berührt; außerdem spielen schwere Krankheiten, Schuld und Sühne eine Rolle. Da es mir aber derzeit eher nach Humor zumute ist, gebe ich lieber noch ein Beispiel für einen der alltagsphilosophischen Exkurse, mit denen das Buch gespickt ist:

Dem Brenner ist das in seinem Leben schon oft aufgefallen, dass die Leute von der Trauer eine eigene Schönheit bekommen. Da darfst du bei der Beurteilung nie vergessen, vom Menschen die Trauer abzuziehen. Sonst kriegst du ein vollkommen falsches Bild und verliebst dich in die Trauer statt in den Menschen, und später entpuppt sich der als fröhlicher Kobold.

(S. 80)

Angesichts solcher Sätze erstaunt es mich nicht weiter, dass Müll bereits der neunte (!) Band der Brenner-Serie von Wolf Haas ist. Denn da steckt schon ein gewaltiges Suchtpotenzial drin, mein lieber Schwan.

Wem gefällt’s?

Das ist in diesem Fall recht einfach zu beantworten: allen, denen es bei den beiden Textbeispielen spontan die Mundwinkel nach oben gezogen hat. Wer hingegen dachte: „Hilfe, das ist aber anstrengend“, sollte sich lieber anderweitig umsehen, denn dieser Stil wird wirklich von A bis Z so durchgezogen. Ich persönlich hoffe, dass der Autor in absehbarer Zeit noch einen zehnten Band nachlegt.

Sven Stricker: Sörensen am Ende der Welt (Rowohlt)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Sörensen am Ende der Welt“ von Sven Stricker

Kommissar mit Angststörung

So viel vorweg

Den Autor Sven Stricker hatte ich bis vor Kurzem überhaupt nicht auf dem Schirm. Und das, obwohl ich die 2021 in der ARD ausgestrahlte Verfilmung von Sörensen hat Angst sogar gesehen hatte und ziemlich gut fand. Erst durch den Literaturblog „buchpost“ kam ich auf die Idee, die beiden Folgebände Sörensen fängt Feuer und Sörensen am Ende der Welt zu lesen – nein: zu verschlingen! Denn hier weiß einer wirklich, wie man schreibt.

Worum geht’s?

Um den titelgebenden Kommissar Sörensen, der von einer heftigen Angststörung gebeutelt wird und sich von Hamburg nach Nordfriesland versetzen lässt, um dort endlich ein ruhigeres Leben zu führen. Natürlich geht dieser Plan nicht auf. Kaum in der fiktiven Kleinstadt Katenbüll angekommen, muss Sörensen gemeinsam mit seinem Team einen abstrusen Fall nach dem anderen lösen: Im ersten Teil liegt gleich mal der Bürgermeister ermordet im eigenen Pferdestall. Im zweiten Teil bekommt es die Polizei mit einer verbrecherischen religiösen Sekte zu tun. Und in Sörensen am Ende der Welt spielen einige nicht minder gefährliche Prepper eine prominente Rolle.

So viel kriminelle Energie auf einmal, noch dazu an einem beschaulichen Ort wie Nordfriesland? Ja, das glaubt man irgendwann nicht mehr so richtig, aber die Bücher kokettieren genau damit und machen so die mangelnde Plausibilität verzeihlich. Und überhaupt: In Miss Marples Heimatdorf St. Mary Mead geschehen schließlich auch 16 Morde in 40 Jahren. Hinterfragt das irgendjemand? Eben.

Stilistisches et cetera

Sven Stricker schreibt köstlich. Obwohl die Handlung durchaus schaurig und die Stimmung oft bedrückend ist, musste ich einfach immer wieder kichern. Sätze wie „Eilig stieg [die Kommissarin] aus und sah zu, wie Ólíver davonfuhr“ (jüngst mit großer Langeweile so gelesen in Dunkel von Ragnar Jónasson) gibt es bei Stricker nicht. Wenn Sörensen aus dem Auto aussteigt, klingt das so:

Er schloss den Passat ab, der Boden war lehmig und tief, er versaute sich Schuhwerk und Hosenbeine, über ihnen rasten die Wolken dahin, als hätten sie einen Termin im Erzgebirge und wären spät dran.

(S. 339)

Wie gesagt: Sven Stricker weiß, was es heißt, anschaulich und interessant zu formulieren. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, zumeist jedoch aus der Sicht Sörensens. Besonders dessen innere Monologe, aber auch die Dialoge sind hervorragend gestaltet. Die norddeutsch gefärbte Umgangssprache in den wörtlichen Reden wird keineswegs lästig, sondern ist gut dosiert, macht die Figuren lebendig und erleichtert die Einfühlung.

Warum noch toll?

Sörensen ist der wahrscheinlich authentischste Held, der mir seit Langem begegnet ist. Seine Angststörung wird ebenso glaubhaft dargestellt wie seine Vielschichtigkeit. Obwohl er ständig am Leben leidet wie an einem hohlen Zahn, sich am Abgrund entlangtastet und immer wieder fast abrutscht, gibt er sich nie auf. Über seinem Reden und Handeln liegt ein feiner, melancholischer Humor, der eine unbändige Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Lebensfreude widerspiegelt. Wenn er gereizt ist, erweist sich seine Zündschnur – bei aller Empathie – als ziemlich kurz. In seinem Kopf geht es hin und her zwischen Angst, Ärger über andere und sich selbst, Erinnerungen und messerscharfen Reflexionen. Der Anblick zweier spielender Hunde direkt neben einem Leichenfundort weckt in ihm folgende Gedanken:

Ein gnadenloses Bild. Es bewies, dass es im Angesicht der Natur keinen Unterschied machte, ob man da war oder nicht. Parallelwelten, dachte Sörensen. Es gab unendlich viele Parallelwelten auf engstem Raum. Die einzige Schnittmenge war die Benutzeroberfläche.

(S. 87)

Wem gefällt’s?

Sörensen am Ende der Welt sowie die beiden Vorgängerbände sind etwas für Leute, denen Krimis im sachlich-berichtenden Stil zu langweilig sind. Wer beispielsweise Frank Schätzings Mordshunger gelungen fand – ebenfalls sehr kurzweilig geschrieben und voller witziger Dialoge –, wird Strickers Sörensen-Romane mit Genuss lesen.

Viel gelesen, nur teilweise profitiert

Mein durchwachsener Bücherherbst

Dass es in diesem Blog in letzter Zeit so ruhig war, hat selbstverständlich nichts damit zu tun, dass ich nicht gelesen hätte – so etwas kommt bei mir nicht vor. 🙂 Vielmehr konnten mich die drei Neuerscheinungen, die ich mir seit dem letzten Beitrag ausgesucht habe, nicht so richtig vom Hocker reißen. Sehr viel lohnenswerter war da der Griff zu einem vergleichsweise alten Werk, und auch das nochmalige Lesen eines anderen nicht mehr ganz neuen Titels erwies sich als ausgesprochen erfrischend! Diesmal also eine kleine gemischte Tüte mit unterschiedlichsten Büchern von „sehr empfehlenswert“ bis „geht so“.

Marlen Haushofer_Die Wand

Marlen Haushofer: Die Wand (Ullstein, erstmals erschienen 1963)
Die Wand von Marlen Haushofer habe ich mir besorgt, nachdem mir das Buch kurz hintereinander aus zwei völlig verschiedenen Richtungen empfohlen worden war. Es geht darin um eine Frau, die infolge eines rätselhaften Ereignisses gezwungen ist, allein mit ihren Tieren in den Bergen zu überleben. Äußerlich passiert scheinbar wenig, doch der Roman entfaltet eine unglaubliche Sogwirkung, sodass ich ihn innerhalb kürzester Zeit durchgelesen hatte. Nicht umsonst wird dieser Titel seit Jahrzehnten immer wieder aufgelegt.

Anita Augustin: Alles Amok (Ullstein, 2014)
Jakob verdingt sich als Profi-Demonstrant – eine Tätigkeit, von der es sich nicht gerade komfortabel leben lässt. Dann scheint es in beruflicher Hinsicht plötzlich bergauf zu gehen, doch leider entpuppt sich der neue Chef als Tyrann der übelsten Sorte. Außerdem hat Jakob ein ganz spezielles privates Problem … Alles Amok ist definitiv ein heftiges Buch: fies, absurd, extrem religionskritisch und teilweise fast schon psychothrillerhaft. Zugleich besitzt es einen sehr ernsten Kern und ist mit seinen vielen skurrilen Ideen und der clever konstruierten Geschichte wirklich etwas Besonderes. Für mich auch beim zweiten Lesen wieder beeindruckend.

Andreas Moster: Kleine Paläste (Arche Verlag, 2021)
Okay, Kleine Paläste hätte in meinem kleinen Ranking genauso gut auf Platz zwei stehen können. Moster erzählt darin die Geschichte zweier Nachbarsfamilien, die durch eine vertuschte Straftat miteinander verbunden sind. Dank der ungewöhnlichen Erzählperspektive ist das durchaus spannend gemacht! Doch in der Hauptsache behandelt der Roman toxische Männlichkeit und weibliches Ausgeliefertsein. Hätte ich nicht mit Doris Knechts Die Nachricht kurz zuvor etwas thematisch Verwandtes gelesen, hätte mich der Titel wahrscheinlich mehr begeistert. Zudem gehen einzelne Szenen gewaltig unter die Haut. Nicht geeignet als Gegenmittel bei Herbst- und Winterblues!

Ferdinand Schmalz: Mein Lieblingstier heißt Winter (S. Fischer, 2021)
Bevor man sich diesen Roman besorgt, sollte man sich unbedingt die Leseprobe auf der Verlagswebsite zu Gemüte führen (hätte ich besser auch tun sollen). Denn der Klappentext verspricht eine Art Krimikomödie: Der Tiefkühlkostvertreter Hans Schlicht soll eine Leiche transportieren, findet diese jedoch nicht am verabredeten Ort vor und muss sich nach ihr auf die Suche machen. Warum die Leseprobe? Weil der österreichische Autor Ferdinand Schmalz sein Werk in einer eigenen, mundartlich gefärbten Kunstsprache verfasst hat: „Und fallen, fallen härter drauf da auf den Kopf von ihm, dem Schlicht, die Sonnenstrahlen, härter drauf als sonst.“ So geht das von der ersten bis zur letzten Seite. Ob da bei irgendjemandem Lesefreude aufkommt?! Bei mir ist sie ausgeblieben.

John Boyne: Maurice Swift – Die Geschichte eines Lügners (Piper, 2021)
Maurice Swift ist ein gefeierter Schriftsteller, hat aber nur dadurch Erfolg, dass er anderen die Ideen klaut. Dabei geht er über Leichen, wobei die Literaturszene sowieso fast ausschließlich aus selbstverliebten, gewissenlosen Subjekten besteht. Etwas undifferenziert und an den Haaren herbeigezogen? Genau, das fand ich eben auch. Hinzu kommt eine teilweise doch recht vulgäre Ausdrucksweise. Die Geschichte eines Lügners ist ein Buch, das man lesen kann, wenn man noch nicht allzu viele Hochstapler-Krimis der Sorte Catch me if you can oder Der talentierte Mr. Ripley kennt. Wer es nicht liest, hat jedoch nichts verpasst.

Doris Knecht: Die Nachricht (Hanser Berlin)

Rezension von Julia Hartel

Die dunkelste Seite von Social Media

So viel vorweg

Ich will ehrlich sein – nach den ersten paar Absätzen von Die Nachricht dachte ich: „O nee, was hab ich mir denn da ausgesucht?! Das ist ja schon wieder eine lebenserfahrene Ich-Erzählerin, die die ganze Zeit nur ihre Gefühle und ihre Beziehungen reflektiert!“ Doch der Verdruss währte kurz: Bereits wenig später hatte ich die Heldin nicht nur ins Herz geschlossen, sondern war auch absolut gefesselt von ihrer Geschichte – und ihrem rätselhaften Problem.

Worum geht’s?

Ruth Ziegler ist Drehbuchautorin und wohnt mit ihrem jüngeren Sohn Benni in einem Haus auf dem Land in der Peripherie Wiens. Ihr Mann Ludwig ist vor drei Jahren bei einem Skiunfall tödlich verunglückt. Sie hat diesen Schicksalsschlag einigermaßen verkraftet, ist durchaus patent, arbeitet fleißig, pflegt ihre Freundschaften, kümmert sich um ihre Stieftochter und deren Baby und ist ziemlich aktiv auf Social Media.

Plötzlich ploppt aus dem Nichts eine anonyme und sehr beunruhigende Nachricht im Postfach ihres Facebook-Accounts auf: „Weisst du eigentlich von der Affaire deines prächtigen Ehemannes?“ Obwohl Ruth tatsächlich davon weiß, bekommt sie Angst, zumal es nicht bei dieser einen Botschaft bleibt und bald auch ihre Freunde und Angehörigen auf diversen Kanälen verunglimpfende, hasserfüllte und beleidigende Nachrichten über sie erhalten. Bald kreist ihr Leben fast nur noch um eine Frage: Welche Person aus ihrem Umfeld schreibt ihr all diese furchtbaren Sachen?

Stilistisches et cetera

Grundsätzlich wird, ähnlich wie im kürzlich vorgestellten Daheim, wenig Wert auf eine besonders geschliffene Ausdrucksweise gelegt. Hier wie dort scheint es den Protagonistinnen wichtiger zu sein, genau hinzuschauen und die Dinge schonungslos beim Namen zu nennen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn es um Ruths Bekannte Iris geht,

… die sich so sehr wünschte, dass ich wieder einen Kerl hätte, einen »Partner«, ein Wort, das ich nicht ertrug, weil in amerikanischen Kitschserien Väter ihre Söhne immer so ansprachen: Partner. Was sollte das? (…) Es regte mich jedes Mal auf. Iris wollte mich wieder als Teil eines Paars sehen, für Paarabende, und damit sich einer um mich kümmerte, und weil sie selber panische Angst davor hatte, allein zu enden.

(S. 229 f.)

Da in der Geschichte soziale Medien eine zentrale Rolle spielen, wird im Text logischerweise das entsprechende „Fachvokabular“ verwendet, das heißt, es wird darin ganz selbstverständlich „geblockt“, „geaddet“, „entfolgt“ etc. Die zum Teil verstörenden Nachrichten streut die Autorin immer wieder in den Text ein, wodurch gut zum Ausdruck kommt, in welchem Maß sie Ruths Gedanken beherrschen. Gelegentlich – etwa in den Dialogen – schimmert ein wenig der Handlungsschauplatz Österreich durch. Allerdings werden österreichische Wendungen und Begriffe auch nicht inflationär verwendet, sondern gerade so, dass es eh charmant ist. 😉

Warum noch toll?

Mit den Aspekten Stalking und psychische Gewalt in sozialen Medien verarbeitet Doris Knecht hochaktuelle Probleme und zeigt vor allem auf, wie schrecklich es ist, wenn Betroffene diesbezüglich nicht ernst genommen werden. Andererseits werden im Buch auch die positiven Seiten des Internets herausgestellt: das Netz als Ort des Austauschs, als Inspirationsquelle, als Chance, Schwarmintelligenz zu nutzen und den eigenen Horizont zu erweitern.

Ähnlich differenziert beschreibt der Roman, obwohl er klar der feministischen Literatur zuzuordnen ist, wie herausfordernd beispielsweise eine gleichberechtigte Rollenverteilung in einer Partnerschaft sein kann. Dies trifft selbst auf Ruth und Ludwig zu, die in dieser Hinsicht nach außen hin immer ausgesprochen modern aufgetreten sind:

In der Unsichtbarkeit unseres Hauses fand Ludwig, dass es einer Frau, die den ganzen Tag herumsaß und schrieb, nicht schaden könnte, davon mal Pause zu machen, Kochpause, Aufräumpause, Kloputzpause. Es nervte mich, dass er meine Arbeit und damit mich nicht ernst nahm, mehr noch: Es machte mich wütend. (…) Nach Ludwigs Tod wurde mir das Ordnungmachen, das ich ihm zu seinen Lebzeiten nicht gegönnt hatte, zur Gewohnheit.

(S. 110 f.)

Wem gefällt’s?

Die Nachricht ist ein spannendes Buch und dürfte außerdem allen zusagen, denen der Schutz von Frauen – online wie offline – ein wichtiges Anliegen ist und die sich gern kritisch, aber differenziert mit Social Media auseinandersetzen.

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert (Kein & Aber)

Rezension von Julia Hartel

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert (Kein & Aber)

Wie gut kennst du deine engsten Vertrauten?

So viel vorweg

Es mag ein Armutszeugnis sein, aber wenn es um Literatur aus Israel geht, wäre mir bisher nur Ephraim Kishon eingefallen. Ihn habe ich als Jugendliche eine Zeit lang leidenschaftlich gern gelesen. Mit Wo der Wolf lauert habe ich meinen Lesehorizont nun endlich erweitert, und zwar auch in Sachen Aktualität. Denn die Kishon-Bücher waren ja, als ich jung war (lang ist’s her!), auch schon nicht mehr ganz taufrisch. Nun also eine topaktuelle israelische Neuerscheinung! Ins Deutsche übersetzt wurde der Text von Ruth Achlama.

Worum geht’s?

Lilach und Michael Schuster haben ihre kriegsgebeutelte Heimat Israel verlassen, um in den vermeintlich sicheren USA ihren Sohn Adam großzuziehen. Lange Zeit sieht es so aus, als hätten sie die perfekte Entscheidung getroffen: Adam scheint ganz behütet aufwachsen zu können, und durch Michaels hervorragend bezahlten Job in Palo Alto im Silicon Valley ist die Familie zu einigem Wohlstand gekommen. Doch dann wird auf die örtliche Synagoge ein Terroranschlag verübt. Die jüdische Gemeinde ist geschockt und zutiefst verunsichert. Adam, inzwischen 16 Jahre alt, nimmt an einem Selbstverteidigungskurs teil. Kurz darauf bricht auf einer Party ein muslimischer Mitschüler von Adam tot zusammen. In Lilach regt sich ein schrecklicher Verdacht: Hat Adam etwas mit diesem Todesfall zu tun? Und kann man eigentlich dem Leiter des Selbstverteidigungskurses, Uri Ziv, so blind vertrauen, wie Michael glaubt?

Stilistisches et cetera

Ayelet Gundar-Goshen lässt ihre Heldin Lilach all diese Geschehnisse, die eigenen Gefühle und auch ihr Umfeld scharfsinnig und schonungslos beschreiben:

Da, wo wir lebten, sagten die Menschen einander alles außer der Wahrheit. Der Kuchen, den du Freunden zum Abendessen mitbrachtest, war unweigerlich amazing, auch wenn du aus Versehen Salz statt Zucker reingeschüttet hattest. Und die Kinder waren immer wonderful, auch wenn sie schon einen Monat lang nicht mehr mit dir geredet hatten.

(S. 188)

Vor allem aber gelingt es der Autorin, der Leserschaft zumindest eine gewisse Einfühlung in die Ängste jüdischer Menschen vor antisemitisch motivierten Gewalttaten zu ermöglichen:

Wir gingen in ein italienisches Restaurant. (…) Mit einem Schlag fielen mir die Stadtbusfahrten in Haifa ein, zur Zeit der Terroranschläge, als jeder Zusteigende als potenzieller Terrorist galt. (…) Ich blickte nach rechts und links, achtete nervös auf jede Regung. Wo der Wolf lauert.

(S. 280 f.)

Trotzdem – und das hat mir mit am besten gefallen – findet in dem Roman keine Schwarz-Weiß-Malerei statt. Vielmehr klingt durch, dass potenziell toxische Ideologien vor keiner Personengruppe und keiner Landesgrenze haltmachen; dass sie besonders für junge Menschen unglaublich gefährlich sein können; und dass es somit verfehlt ist, in den Kategorien „Täter“ und „Opfer“ zu denken. Vielleicht steht der „lauernde Wolf“ letztlich gar nicht nur für den vermummten Attentäter mit der Machete, sondern auch für Hass, Gewalt und Krieg selbst, für die Abwesenheit von Toleranz und für jegliche Form von politischem oder religiösem Fanatismus.

Warum noch toll?

Weil die Geschichte bis zum Schluss spannend bleibt und die Figuren psychologisch sehr gut ausgearbeitet sind. Nicht nur in Bezug auf Uri, der schnell zu Adams großem Idol und zu einem engen Freund der Familie wird, taucht bald die Frage auf, wie gut man einen Menschen eigentlich kennen kann. Gemeinsam mit Lilach tappt man auch im Dunkeln, was Adams mögliche Verwicklung in den Tod seines Mitschülers angeht. Der mütterliche Schmerz darüber, dass sich der erwachsen werdende Sohn immer mehr ablöst und verschließt, die Angst, ihn ganz direkt zu fragen, was er weiß oder vielleicht getan hat – all das wird glaubwürdig vermittelt. Dwayne, ein Bekannter von Lilach, formuliert es so:

Weißt du, früher mal dachte ich, die größte Unbekannte im Leben seien unsere Eltern. Heute meine ich, die größte Unbekannte im Leben der Menschen sind ihre Kinder.

(S. 135)

Wem gefällt’s?

Wo der Wolf lauert ist eines der Bücher, die sich schwer mit anderen vergleichen lassen. Ich empfehle es Leserinnen und Lesern, die sich für das Thema Jüdisches Leben in den USA interessieren, sich für Psychogramme begeistern können und es auf sprachlicher Ebene lieber direkt als poetisch mögen.

Judith Hermann: Daheim (S. Fischer)

Rezension von Julia Hartel

Judith Hermann: „Daheim“

Der Preis der Freiheit

So viel vorweg

Nachdem ich in den letzten Wochen lektüretechnisch gleich zweimal kräftig danebengegriffen hatte (die zugehörigen Unmutsäußerungen befinden sich am Ende dieses Beitrags), wollte ich beim nächsten Versuch auf Nummer sicher gehen. Deshalb entschied ich mich für einen Titel, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und bereits viel Lob bekommen hat: Daheim von Judith Hermann. Dass dieser Roman schon länger auf dem Markt ist als das Buch aus meinem vorigen Post, wird ja hoffentlich niemanden hier stören. 😉

Worum geht’s?

Eine 47 Jahre alte Frau versucht einen Neuanfang: Sie hat sich von ihrem Mann Otis scheiden lassen und ist ans Meer gezogen, wo ihr Bruder lebt. Dort oben, in einem baufälligen Häuschen an der nicht genauer definierten „östlichen Küste“, will sie allein sein, zu sich selbst finden und wahrscheinlich auch den Auszug ihrer erwachsenen Tochter Ann verarbeiten. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Kellnerin in der Hafenkneipe ihres Bruders. Mit Otis steht sie nach wie vor in oft wehmütigem Briefkontakt. Gleichzeitig ergeben sich bei ihr im Lauf der Zeit Beziehungen zu neuen Menschen. Wird die Heldin im Norden heimisch werden? Oder wird sie ihre mühsam errungene Freiheit über alles stellen?

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist das Buch eigen: Es geht darin viel um Gefühle; trotzdem ist es „herb“ im Ton, die Sätze sind kurz und nüchtern, die Beschreibungen zielsicher. Dazu ist eine gewisse Nachlässigkeit spürbar. Besonders die Dialoge dürften bei allen Deutschlehrern und Lektorinnen die Hand im ersten Moment reflexartig in Richtung Rotstift zucken lassen:

Was, sagte Otis manchmal zu mir, hast du Ann eigentlich beigebracht.
Ich sagte, ich habe ihr beigebracht, höflich zu sein.
Alles andere ließ ich unerwähnt. Das Schwimmen. Das Schweigen.

(S. 126)

Das ist ja nun ganz und gar nicht die Interpunktion in der wörtlichen Rede, die man in der Schule lernt, angefangen beim fehlenden Fragezeichen! Aber sie passt zu den Figuren und der Art, wie sie interagieren. Vielleicht soll auf diese Weise auch der Eindruck verstärkt werden, dass hier eine Person einfach drauflosschreibt, weil sie keinen Sinn darin sieht, nach Perfektion zu streben. Das heißt übrigens nicht, dass die Erzählerin sich nicht hin und wieder bildhaft ausdrücken würde – es wird nur eben nicht lange poliert:

In der Kneipe kann ich meinen Bruder sich selbst überlassen, ihn auf seinem Platz hinter der Kaffeemaschine alleine lassen, er sitzt auf seinem Barhocker wie ein mürber und zerrupfter Vogel, der letzte seiner Art.

(S. 77)

Warum noch toll?

Daheim ist ein leiser Roman, der tief unter die Oberfläche taucht. Er behandelt die Weggabelungen des Lebens, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, das Älterwerden, die Trauer um vergangenes Glück, die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, das Loslassen, die Unabhängigkeit und ihren Preis.

Beim Lesen tauchen Fragen auf: Wieso ist die Protagonistin nicht bei ihrem kauzigen, aber freundlichen und klugen Ehemann geblieben? Wieso strebt sie nicht nach mehr beruflicher Erfüllung? Wieso lässt sie sich mit diesem Schweinebauern ein, den sie kaum kennt? Das alles ist schwer zu verstehen, aber irgendwie schafft es die Autorin, dass sich der Weg, den ihre – übrigens namenlos bleibende – Heldin einschlägt, letztlich passend anfühlt.

Wem gefällt’s?

Menschen, die gern viel nachdenken und ein Faible für die landschaftlichen Reize Norddeutschlands haben. Ein wenig hat mich Daheim an Vom Schlafen und Verschwinden von Katharina Hagena erinnert: Auch dort reflektiert eine Ich-Erzählerin ihr bisheriges Leben und die Beziehung zu ihrer selbstständig gewordenen Tochter. Und auch dort werden in aus der Erinnerung zitierten Dialogen keine Anführungszeichen gesetzt. Möglich, dass es da bei den Zielgruppen gewisse Überschneidungen gibt. 😉

***

Ab hier wird geschimpft

Na, Hand aufs Herz: Wer ist alles gleich hierher gesprungen, ohne erst den Haupttext zu lesen? Ha, erwischt! 😀 Aber ich versteh’s ja: Gemecker liest sich amüsanter als Lob (und schreibt sich meist auch leichter). Also los:

Enttäuschung Nummer eins war Das Jahresbankett der Totengräber von Mathias Enard. Die in Westfrankreich angesiedelte Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte. Dabei ist der Clou, dass die Seelen der Figuren durch das „Große Rad“ miteinander verbunden sind und permanent als neue Lebewesen wiedergeboren werden. Als beispielsweise der Besitzer des Dorfcafés stirbt, geht seine Seele auf einen Igel über. Dieser wird überfahren und die Seele wandert weiter in eine Bettwanze, die sich am Blut des auf der Durchreise befindlichen Napoleon Bonaparte gütlich tut. Und so fort. Erzählt ist das alles meisterlich, und Enard hat über das Deux-Sèvres und die umliegenden Départments anscheinend so ziemlich alles gelesen, was je über sie geschrieben wurde. Mir war schon auch klar, dass in dem Roman vermutlich viel gestorben wird – aber auf gefühlt jeder zweiten Seite und auf derart grässliche Arten und Weisen, genüsslich bis ins Detail beschrieben?! Ich fand das Buch furchtbar und konnte es beim besten Willen nicht zu Ende lesen. Allenfalls etwas für ganz Hartgesottene!

Enttäuschung Nummer zwei habe ich zu Ende gelesen, war aber hinterher ähnlich unzufrieden. Die einsame Bodybuilderin ist eine Sammlung von Kurzgeschichten aus der Feder der in Japan sehr erfolgreichen Autorin Yukiko Motoya. In den Episoden geht es um scheinbar durchschnittliche Menschen und ihren Alltag, wobei sich die Handlung früher oder später immer ins Absurde verkehrt. Eine Ehefrau beginnt zum Beispiel, sich in ihren Mann zu verwandeln, wohingegen er seinen Menschenkörper verliert und plötzlich eine Pfingstrose wird. Recht speziell, genau. Über so was kann man bestimmt wunderbare Textanalysen schreiben, aber als Freizeitlektüre hat es mir definitiv nicht getaugt.

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