Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142 (Droemer Knaur)

Viele Handys für einen guten Zweck

Rezension von Julia Hartel

Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142

So viel vorweg

Dass kreative Betätigung dem Menschen gerade in schwierigen Zeiten gut bekommt, ist keine Neuigkeit. Ganz in diesem Sinne entwickelte der gefeierte Thriller-Autor Sebastian Fitzek die Idee, den ersten Corona-Lockdown 2020 für ein besonderes Projekt zu nutzen. Ende März lud er Schreibbegeisterte via Social Media (#wirschreibenzuhause) zu einem Wettbewerb ein. Die Aufgabe bestand darin, Kurzkrimis zu verfassen, die dann in einem gemeinsamen Band veröffentlicht werden sollten.

Eingereicht wurden unglaubliche 1.142 Geschichten, aus denen eine 30-köpfige Jury die 12 gelungensten auswählte. Mehrere etablierte Autorinnen und Autoren ergänzten die Sammlung honorarfrei um weitere Texte, sodass Identität 1142 nun 23 Short-Thriller enthält. Sämtliche Gewinne aus dem Verkauf gehen an das Sozialwerk des Deutschen Buchhandels e. V.

Worum geht’s?

Das verbindende Thema, auf das sich die gesamte Schreibgemeinschaft festlegte, lautet „Identität“. Die (bisher noch) nicht prominenten Talente verständigten sich zusätzlich auf einige weitere Motive: In den Geschichten sollte es jeweils um ein fremdes Handy gehen – und zwar nebst Fotos der Finderin bzw. des Finders im Speicher –, außerdem um ein dunkles Geheimnis sowie um Rache aus altem Schmerz.

Im Detail wurden diese inhaltlichen Vorgaben tatsächlich sehr verschieden umgesetzt. So spinnt beispielsweise Livia Fröhlich in Das Geschenk ein Ehedrama um die genannten Kernelemente, während bei Vanessa Krypczyk in Thomas die gutbürgerliche Fassade einer ehemaligen Auftragsmörderin zum Einsturz gebracht wird. Saskia Hehl begibt sich unter dem Titel Aufgelöst ins rechtsradikale Milieu, Durchleuchtet von Ursula Poznanski spielt in einem einsamen, gruseligen Krankenzimmer.

Unterm Strich kommen in Identität 1142 ziemlich viele Handys und, wenn ich ganz ehrlich bin, auch ein paar klitzekleine Logikschwächen zusammen. 😉 Aber ich kann wirklich sagen, dass die meisten Plot-Ideen super sind und dass praktisch alle Storys gegen Ende mit einer überraschenden Wendung aufwarten (was für mich immer ein großer Pluspunkt ist).

Stilistisches et cetera

Wie bei einer Anthologie kaum anders möglich, geht es in Sachen Stil kunterbunt zu. Relativ häufig trifft man natürlich auf eine „krimitypische“ Ausdrucksweise, die sich durch Schnörkellosigkeit und kurze Sätze auszeichnet:

Markus runzelte die Stirn. Die Batterie war noch fast voll. Und es gab keine Sperre. Nichts. Er sah durch die Liste der Apps. Das Handy musste neu aufgesetzt worden sein. (…) Und das Adressbuch war leer. Als er jedoch die Galerie-App öffnete, stockte ihm der Atem. Alles verlangsamte sich. Er starrte für einige Sekunden auf das Foto.

Mordechai Simons: Geburtstag in der Hölle (S. 161)

Manchmal geht es auch experimenteller zu, wie etwa hier:

Die populärste aller Märchenfiguren (…) dachte noch nicht einmal daran, dass Handys noch gar nicht existieren durften, ehe sie bereits nach dem wunderschön glänzenden Gegenstand gegriffen hatte. Die dicklichen Fingerchen hielten das schwarze Gerät ehrfürchtig, als wäre es eine Trophäe, auf die Rotkäppchen schon lange gewartet hatte.

Pia Schmidt: Ich bin Rotkäppchen (S. 182)

Und einzelne Beispiele fallen – im allerpositivsten Sinne – gestalterisch völlig aus dem Rahmen:

Der Tod entdeckte eines Tages, dass er zu lange geruht hatte. Aufgeregt eilte er hinaus in die Welt, um Menschen zu mähen. Doch die Menschen beschäftigten sich mit Gentechnologie und wollten nicht mehr sterben. (…) Nach einer Weile sah er einen Witz am Wegesrand sitzen und bittere Tränen vergießen. Da hatte er ja den rechten Gefährten gefunden. So saßen sie bald beisammen und überboten sich gegenseitig in der Tiefe ihrer Seufzer.

Frank Schätzing: Der Witz und der Tod (S. 176)

Für den einen oder die andere stecken in manchen Passagen womöglich etwas zu viel Grusel, Blut und Wahnsinn – wir haben es eben mit Short-Thrillern zu tun. Doch der Vielfalt sei Dank muss man ja in so einem Fall einfach nur zur nächsten Geschichte weiterblättern. Auch mich konnten nicht alle Storys gleichermaßen packen. Trotzdem konnte ich für mich ziemlich schnell drei klare Favoriten definieren …

Welche Geschichten sind am besten gelungen?

Recht weit oben (quasi auf Platz drei) rangiert für mich Entlang der goldenen Ähren von Robert Hönatsch, da hier die Figuren sehr überzeugend ausgearbeitet sind, wodurch die Story an Ernst und Tiefgang gewinnt. Außerdem wird darin auf eher subtile denn gewalttätige – dadurch allerdings nicht unbedingt weniger grausame – Weise Rache genommen.

Die „Silbermedaille“ würde ich dem Initiator und Herausgeber, Sebastian Fitzek, verleihen. In Niemand wird man nämlich dermaßen an der Nase herumgeführt, dass man sich fast schon ärgert, bis sich ganz am Ende alles noch mal um 180 Grad dreht! Der wahrscheinlich größte Pageturner der Sammlung.

Ausgezeichnet gefallen hat mir die Geschichte Pauls Begleiter oder Dr. Wundersitz und die nicht sehr nette Helga von Vincent Kliesch: Sie ist überaus gewandt geschrieben (wie die anderen beiden übrigens auch), auf makabre Art witzig und intelligent, steckt voller guter Ideen und bietet ebenfalls eine (fiese) Überraschung zum Schluss. Von diesem Herrn Kliesch muss ich mir definitiv mal was Längeres zum Lesen besorgen!

Wem gefällt’s?

Das ist im Falle von Identität 1142 relativ leicht zu beantworten: Fans von Thrillern! Alle, die es reizt, neben talentierten Neulingen gleich auch mehrere große Namen des Genres zwischen zwei Buchdeckeln versammelt vorzufinden (außer den bereits genannten sind auch noch Charlotte Link, Romy Hausmann und andere vertreten), sollten zuschlagen. Zumal dann, wenn sie einen guten Zweck unterstützen möchten.

[Vielen Dank an die Verlagsgruppe Droemer Knaur für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Daisy Johnson: Untertauchen (btb)

Wenn das Schicksal die Fäden zieht

Rezension von Julia Hartel

Daisy Johnson: „Untertauchen“

So viel vorweg

Schon wieder keine leichte Lektüre! Aber dafür auch diesmal eine sehr interessante … Untertauchen (im britischen Original: Everything Under) hat eine besondere Ausstrahlung, ist dicht erzählt und besitzt Tiefe – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Denn abgesehen von philosophischen und psychologischen Fragen spielt darin tatsächlich auch Wasser eine wichtige Rolle.

Worum geht’s?

Das ist leider nicht wirklich spoilerfrei zu beantworten: Die Lexikografin Gretel Whiting wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter Sarah verlassen und hat sie seitdem verzweifelt gesucht. Jetzt, mit 32, hat sie sie endlich wiedergefunden. Aber zwischen den Frauen war es schon damals kompliziert, und es wird nicht besser. Sarah ist an Alzheimer erkrankt und oft aggressiv; ihre Persönlichkeit kommt ihr zusehends abhanden. Andererseits offenbart sie plötzlich bisher vertuschte Geschehnisse aus Gretels Kindheit. Diese Zeit haben Mutter und Tochter größtenteils zu zweit auf einem Hausboot verbracht – bis eines Winters Marcus zu ihnen kam … Erzählt wird all das aus verschiedenen Perspektiven, sodass man zunächst nicht so ganz durchblickt, doch dann wird von Kapitel zu Kapitel klarer: Die Geschichte ist nichts anderes als eine moderne Version des antiken Ödipus-Mythos.

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist Johnsons Roman von einer ähnlich kargen, schaurig-schönen Poesie wie die Flusslandschaft, in der er über weite Strecken spielt. Hierbei geht ein Kompliment an die Übersetzerin Birgit Pfaffinger: Sie lässt das Lesepublikum in der Tat vergessen, dass es eine Übersetzung vor sich hat. Was ich nicht so recht verstehe, ist der gelegentliche Mix verschiedener Tempora („Als ich wieder hinsah, stehst du in der niedrigen Tür, …). Das hat mich, obwohl es möglicherweise Absicht ist, beim Lesen etwas gestört.

Trotzdem: Man hört Gretel und Sarah streiten, stolpert mit Marcus am Fluss entlang, wo er dann auf die beiden trifft, man sitzt nachts bei ihm im Zelt und fürchtet sich sogar gemeinsam mit den „Flussmenschen“ ein bisschen vor dem Ungeheuer, das im Wasser lebt. Das heißt: vermutlich dort lebt. In diesem Buch ist nämlich nicht immer ganz klar, wo Traum und Einbildung aufhören und wo die Wirklichkeit anfängt.

Sprache bildet auch selbst ein zentrales Thema. So sind Sarah und Gretel durch einen eigenen Wortschatz verbunden, mit dem sie sich „von der Welt abgekapselt“ haben, wie Marcus erkennt:

„Sarah nannte Gretel El und manchmal Hänsel oder Gereutel. Gretel nannte Sarah Kumpeline oder Frau Doktor. Uffzeit hieß, dass Sarah Zeit für sich brauchte. Eine Harpiedudel war ein kleines Ärgernis wie ein heruntergefallener Teller oder ein Kratzer (…) Schwill war das Geräusch, das der Fluss nachts machte, und grär sein Geschmack am Morgen.“

(S. 220 f.)

Dass Gretel später Lexikografin wird, geschieht wohl in der Absicht, sich „echte“ Wörter zu eigen zu machen und sich so aus der immer noch ungesund nachwirkenden Symbiose mit der Mutter zu befreien (was eher schlecht als recht gelingt). Und Sarah wiederum verliert aufgrund ihrer Krankheit ihre Sprache – und damit ihre Identität.

Was gibt es noch zu sagen?

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Schicksal. Wie Ödipus und Iokaste sind die Figuren schutz- und alternativlos ihren eigenen, vorherbestimmten Handlungen ausgeliefert. Freier Wille? Nichts als Illusion.

Leider liegt für mich genau hierin ein großer Minuspunkt. Denn die zahlreichen Motive aus der Mythologie (darunter Rätselfragen, Präkognition, die Personifikation der Natur, auch der Aspekt Transsexualität) werden zwar auf reizvolle Weise neu interpretiert, und das Thema Sprache und Identität ist ein guter ergänzender Gesichtspunkt. Aber die grundlegende Prämisse ist genau die gleiche wie in der Ursprungsgeschichte: Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Abgesehen davon, ob man diese Annahme für plausibel hält, wäre hier ein neuer Impuls spannend gewesen. Dennoch ist Untertauchen ein sehr intelligentes Buch. Und am Ende strahlt sogar so etwas wie ein leiser Hoffnungsschimmer auf.

Wem gefällt’s?

Der Roman ist Menschen zu empfehlen, die Bücher mit Ecken und Kanten mögen. Wer eine Schwäche für die griechische Mythologie hat (und, damit verbunden, für leichten bis mittleren Grusel ;-)), dürfte ebenfalls Gefallen daran finden.

[Vielen Dank an die Random House GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

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