Daisy Johnson: Untertauchen (btb)

Wenn das Schicksal die Fäden zieht

Rezension von Julia Hartel

Daisy Johnson: „Untertauchen“

So viel vorweg

Schon wieder keine leichte Lektüre! Aber dafür auch diesmal eine sehr interessante … Untertauchen (im britischen Original: Everything Under) hat eine besondere Ausstrahlung, ist dicht erzählt und besitzt Tiefe – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Denn abgesehen von philosophischen und psychologischen Fragen spielt darin tatsächlich auch Wasser eine wichtige Rolle.

Worum geht’s?

Das ist leider nicht wirklich spoilerfrei zu beantworten: Die Lexikografin Gretel Whiting wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter Sarah verlassen und hat sie seitdem verzweifelt gesucht. Jetzt, mit 32, hat sie sie endlich wiedergefunden. Aber zwischen den Frauen war es schon damals kompliziert, und es wird nicht besser. Sarah ist an Alzheimer erkrankt und oft aggressiv; ihre Persönlichkeit kommt ihr zusehends abhanden. Andererseits offenbart sie plötzlich bisher vertuschte Geschehnisse aus Gretels Kindheit. Diese Zeit haben Mutter und Tochter größtenteils zu zweit auf einem Hausboot verbracht – bis eines Winters Marcus zu ihnen kam … Erzählt wird all das aus verschiedenen Perspektiven, sodass man zunächst nicht so ganz durchblickt, doch dann wird von Kapitel zu Kapitel klarer: Die Geschichte ist nichts anderes als eine moderne Version des antiken Ödipus-Mythos.

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist Johnsons Roman von einer ähnlich kargen, schaurig-schönen Poesie wie die Flusslandschaft, in der er über weite Strecken spielt. Hierbei geht ein Kompliment an die Übersetzerin Birgit Pfaffinger: Sie lässt das Lesepublikum in der Tat vergessen, dass es eine Übersetzung vor sich hat. Was ich nicht so recht verstehe, ist der gelegentliche Mix verschiedener Tempora („Als ich wieder hinsah, stehst du in der niedrigen Tür, …). Das hat mich, obwohl es möglicherweise Absicht ist, beim Lesen etwas gestört.

Trotzdem: Man hört Gretel und Sarah streiten, stolpert mit Marcus am Fluss entlang, wo er dann auf die beiden trifft, man sitzt nachts bei ihm im Zelt und fürchtet sich sogar gemeinsam mit den „Flussmenschen“ ein bisschen vor dem Ungeheuer, das im Wasser lebt. Das heißt: vermutlich dort lebt. In diesem Buch ist nämlich nicht immer ganz klar, wo Traum und Einbildung aufhören und wo die Wirklichkeit anfängt.

Sprache bildet auch selbst ein zentrales Thema. So sind Sarah und Gretel durch einen eigenen Wortschatz verbunden, mit dem sie sich „von der Welt abgekapselt“ haben, wie Marcus erkennt:

„Sarah nannte Gretel El und manchmal Hänsel oder Gereutel. Gretel nannte Sarah Kumpeline oder Frau Doktor. Uffzeit hieß, dass Sarah Zeit für sich brauchte. Eine Harpiedudel war ein kleines Ärgernis wie ein heruntergefallener Teller oder ein Kratzer (…) Schwill war das Geräusch, das der Fluss nachts machte, und grär sein Geschmack am Morgen.“

(S. 220 f.)

Dass Gretel später Lexikografin wird, geschieht wohl in der Absicht, sich „echte“ Wörter zu eigen zu machen und sich so aus der immer noch ungesund nachwirkenden Symbiose mit der Mutter zu befreien (was eher schlecht als recht gelingt). Und Sarah wiederum verliert aufgrund ihrer Krankheit ihre Sprache – und damit ihre Identität.

Was gibt es noch zu sagen?

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Schicksal. Wie Ödipus und Iokaste sind die Figuren schutz- und alternativlos ihren eigenen, vorherbestimmten Handlungen ausgeliefert. Freier Wille? Nichts als Illusion.

Leider liegt für mich genau hierin ein großer Minuspunkt. Denn die zahlreichen Motive aus der Mythologie (darunter Rätselfragen, Präkognition, die Personifikation der Natur, auch der Aspekt Transsexualität) werden zwar auf reizvolle Weise neu interpretiert, und das Thema Sprache und Identität ist ein guter ergänzender Gesichtspunkt. Aber die grundlegende Prämisse ist genau die gleiche wie in der Ursprungsgeschichte: Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Abgesehen davon, ob man diese Annahme für plausibel hält, wäre hier ein neuer Impuls spannend gewesen. Dennoch ist Untertauchen ein sehr intelligentes Buch. Und am Ende strahlt sogar so etwas wie ein leiser Hoffnungsschimmer auf.

Wem gefällt’s?

Der Roman ist Menschen zu empfehlen, die Bücher mit Ecken und Kanten mögen. Wer eine Schwäche für die griechische Mythologie hat (und, damit verbunden, für leichten bis mittleren Grusel ;-)), dürfte ebenfalls Gefallen daran finden.

[Vielen Dank an die Random House GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

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