Kurzrezensionen von Julia Hartel
So viel vorweg
Die Romane, die ich diesmal vorstellen möchte, sind sehr verschieden, weisen jedoch untereinander auch einzelne Gemeinsamkeiten auf: Nummer 1 und 3 spielen in Österreich, Nummer 2 und 3 stehen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 und Nummer 1 und 2 habe ich ausgesprochen gern gelesen, ohne am Ende restlos überzeugt zu sein. Interessant sind sie aber alle! Meines Erachtens genug Gründe, sie kurz und knapp in einem gemeinsamen Posting zu beleuchten.
Johanna Sebauer: Nincshof (Dumont)
Worum geht’s?
In Nincshof an der österreichisch-ungarischen Grenze wird eine ungewöhnliche Initiative gegründet: Ein paar Männer, die sich „Oblivisten“ nennen, wollen erreichen, dass ihr Heimatort von allen nicht dort lebenden Menschen vergessen wird. Dumm nur, dass sich die zugezogene Dokumentarfilmerin Isa Bachgasser so brennend für die Dorfgeschichte interessiert und sich zu allem Überfluss auch noch mit Erna Rohdiebl, dem neuesten Mitglied der Oblivistentruppe, anfreundet. Wird das Projekt scheitern?
Meine Meinung
Sebauers Debütroman hat mir viel Lesefreude bereitet, aber leider auch Rätsel aufgegeben. Der Schreibstil zeichnet sich durch die angenehme Mischung aus gestochen scharfen und zugleich poetischen Formulierungen aus, die mir immer sehr gut gefällt. Man begegnet sympathischen Charakteren und witzigen Ideen, planscht mit Erna Rohdiebl heimlich nachts im Pool der Nachbarin und stromert mit Isa Bachgasser zu Recherchezwecken auf dem brütend heißen Dorffriedhof herum. Erzählen kann die Autorin also meisterlich! Was sie letztlich mit ihrem Buch sagen will, ist für mich jedoch offengeblieben. Nähme man die Grundidee ernst, müsste man Nincshof politisch gesehen wahrscheinlich sogar höchst problematisch finden, denn letztlich wollen sich die Oblivisten vom Bundesstaat Österreich abnabeln. Fasst man das Buch aber einfach als gut geschriebene Geschichte auf, kann man ein paar sehr vergnügliche Stunden damit verbringen.
Ulrike Sterblich: Drifter (Rowohlt Hundert Augen)
Worum geht’s?
Wenzel Zahn ist Community-Manager bei einem Fernsehsender und hat meistens Pech in der Liebe. Eines Tages wird sein bester Freund Marco Killmann, genannt „Killer“, vom Blitz getroffen – eine persönlichkeitsverändernde Erfahrung für den erfolgreichen Karrieremann. Dass die Freunde kurz zuvor zum ersten Mal der geheimnisvollen Vica begegnet sind, kann aus Wenzels Sicht kein Zufall sein. Denn von diesem Tag an bringt Vica mit ihren rätselhaften Geschäftsideen einfach alles durcheinander. Ihre Firmenzentrale richtet sie in dem Mietshaus ein, in dem Wenzel und Killer aufgewachsen sind – doch das ist nur eine von vielen Merkwürdigkeiten …
Meine Meinung
Es ist mir eigentlich ein bisschen schleierhaft, wie ein Roman wie Drifter auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landen konnte. Und das sage ich gar nicht wegen der schrägen Handlung oder der teils flapsigen Sprache. Ich sage es, weil das Buch … nun ja … Spaß macht 🫣 – meiner bisherigen Erfahrung nach nicht unbedingt ein Kriterium für die Vergabe dieses Preises. Anscheinend war die im Roman enthaltene Kritik am fragwürdigen Wertesystem unserer Gesellschaft und der Medien ausschlaggebend, dem der Wert der Freundschaft gegenübergestellt wird. Trotz dieser sicherlich ernst gemeinten Botschaft habe ich aber, wie bereits angedeutet, viel gelacht: über die ganzen verrückten Einfälle und vor allem über die liebenswerten Freunde Wenzel und Killer mit ihren köstlichen Dialogen. Was ich dabei nicht verschweigen will: Ich persönlich hätte mir einen anderen Schluss gewünscht. Deshalb also auch im Falle von Drifter ein paar Punkte Abzug meinerseits.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter (Rowohlt)
Worum geht’s?
In Echtzeitalter durchleben wir gemeinsam mit Till Kokorda neun Schuljahre am „Marianum“, einem angesehenen Wiener Halbinternat. Leider hat Till das Pech, an den wahrscheinlich strengsten und konservativsten Klassenlehrer zu geraten, den diese Institution zu bieten hat: den Dolinar. Dass Till sich absolut nicht für dessen Fächer interessiert – nämlich für Deutsch und Französisch –, sondern sich am liebsten bis in die Nacht dem Online-Strategiespiel Age of Empires 2 hingibt, macht die Sache nicht besser. Natürlich gehören zu Tills Schullaufbahn auch Freundschaften, Verluste, Liebeskummer, Partys und Schülerstreiche. Doch selbst über den schönen Momenten schwebt der Dolinar wie ein dunkler Schatten, und eins ist klar: Sich unter solchen Voraussetzungen individuell zu entfalten, ist eine Herausforderung.
Meine Meinung
Auch dieses Buch hat mir gefallen, und zwar – man glaubt es kaum – sogar einschließlich des Schlusses! Klar, manchmal hat Till mich ein bisschen wahnsinnig gemacht (ist es wirklich so schwer, an die Lektüre für die morgige Deutschstunde zu denken?!), aber ins Herz geschlossen habe ich ihn dennoch. Wie sein Lehrer ihn gnadenlos bestraft und oft demütigt, wie sein großes Talent als professioneller Gamer völlig verkannt wird und er die meiste Zeit fast an der Schule verzweifelt, all das lässt mitleiden und regt zum kritischen Nachdenken über das klassische Schulsystem an. Zudem nimmt Schachinger immer wieder die österreichische Politik der letzten Jahre ins Visier. Seinen Stil muss man allerdings mögen: Die Sätze sind teils recht lang und verschachtelt, und besonders am Anfang des Romans wird vieles eher erklärt anstatt mithilfe von Szenen gezeigt. Trotzdem ein empfehlenswertes Buch, das bei mir mit so schönen Austriazismen wie „Schlapfen“ Erinnerungen an die Jugendromane von Christine Nöstlinger geweckt hat.