Die Untiefen der menschlichen Psyche
Buchbesprechung von Julia Hartel
So viel vorweg
Vater unser ist eins von den Büchern, bei deren Lektüre man fast vergisst zu blinzeln. Packend-beklemmend kommt die Story daher – man schließt die Figuren ins Herz und will sie gleichzeitig schütteln und anschreien: „Was TUT ihr bloß?!“
Worum geht’s?
Ich-Erzählerin Eva Gruber hat psychische Probleme und wird ins Wiener Otto-Wagner-Spital eingeliefert, wo sie auf ihren Bruder Bernhard trifft. Er leidet an einer Essstörung. Die Geschwister werden behandelt, doch beide sind offenbar so tief traumatisiert, dass es mit den Therapien nicht so recht voranzugehen scheint. Innerlich, so viel wird klar, arbeiten sie sich an ihren Eltern ab; was genau in Evas und Bernhards Kindheit passiert ist, erfährt man aber erst gegen Ende des Buchs.
Stilistisches et cetera
Sprachlich hat mich Vater unser rundum überzeugt: Als geborene Klagenfurterin streut Angela Lehner (Jahrgang 1987) eine gewaltige Prise Österreich in ihre Dialoge, ohne dadurch irgendeine Gemütlichkeit aufkommen zu lassen. Evas Reflexionen sind ebenso scharfzüngig wie scharfsinnig, abgegriffene Formulierungen oder Bilder sucht man vergeblich. Nicht umsonst stand dieses Romandebüt 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Warum noch toll?
Die Geschichte gibt viel Einblick in das Innenleben der Heldin – was weder heißt, dass man ihr als Leser trauen könnte, noch, dass die Handlung nicht auch äußerlich an Fahrt aufnehmen würde. Im Gegenteil: Besonders im dritten Teil wird das Ganze zu einem regelrechten Pageturner.
Wem gefällt’s?
Das Buch ist sicherlich nicht die erste Wahl, wenn man sich gerade nach guter Laune sehnt. Wer Spannung liebt, sich für die Untiefen der menschlichen Psyche interessiert und für unverbrauchte Stilmittel begeistert, sollte Vater unser aber unbedingt lesen (eventuell eine Tafel Schokolade für hinterher bereithalten!).