Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Buchbesprechung von Julia Hartel
So viel vorweg
Wer Herzklappen von Johnson & Johnson aufschlägt, sollte keine leichte Frühlings- oder Sommerlektüre erwarten. Dafür ist die Thematik, die die Österreicherin Valerie Fritsch in ihrem im Februar 2020 erschienenen Roman verarbeitet, einfach zu stark in der Realität verwurzelt. So etwas wie Unbeschwertheit gibt es darin nicht, und die Hoffnung – nun, die hat es zumindest schwer …
Worum geht’s?
Um eine unbeschreiblich große, alte Last, die über Generationen hinweg weiterwirkt. Hauptfigur Alma wächst in einem Elternhaus auf, das nur aus fadenscheinigen Kulissen zu bestehen scheint. Vater und Mutter kommen ihr vor wie Schauspieler; sie vermögen ihr keinen emotionalen Halt zu geben. Der äußerlich und innerlich vom Zweiten Weltkrieg und der Kriegsgefangenschaft in Kasachstan gezeichnete Großvater und die Großmutter tun vor allem eins: schweigen. Nach einer ersten, offenbar ebenso glücklosen wie unbedeutenden Ehe lernt Alma Friedrich kennen, mit dem sie nach einer jahrelangen Fernbeziehung zusammenzieht und einen Sohn bekommt. Dieser Sohn, Emil, wird mit einer Besonderheit geboren, die – Schätzungen zufolge – nur rund hundert Menschen weltweit aufweisen: Er kann keinen Schmerz empfinden. Unzählige Unfälle, teils aus Versehen, teils aus Übermut geschehen, haben Narben und jede Menge geflickte Knochen hinterlassen. Eine unermessliche Sorge für seine Mutter. Daneben besucht Alma nun regelmäßig die Großmutter, lässt sich von ihr von früher erzählen und merkt, wie sehr der Krieg auch ihr eigenes Leben bestimmt – nämlich fast so stark, als hätte sie ihn selbst erlebt. Nach dem Tod der Großeltern fasst Alma einen Entschluss: Sie will dem geerbten Schmerz noch weiter auf den Grund gehen. Und so macht sie sich mit ihrer kleinen Familie auf eine weite Reise.
Stilistisches et cetera
Was in Sachen Stil mit als Erstes auffällt, ist, dass es im Roman so gut wie keine wörtliche Rede gibt. Dadurch wirken die Figuren eigenartig unnahbar. Man hat das Gefühl, sie nicht richtig zu fassen zu bekommen. Doch bei genauerer Überlegung stellt man fest, wie passend das ist: Gerade Alma weiß ja selbst kaum, wer sie eigentlich ist, und es scheint ihr schwerzufallen, sich für andere Menschen zu öffnen.
Andererseits wiederum stehen die – aus personaler Erzählperspektive wiedergegebenen – Wahrnehmungen und Reflexionen der Figuren eindeutig im Zentrum des Interesses. So heißt es über den Großvater: „Auch wenn er aufrecht stand in den Frontjahren, mit zurückgespannten Schultern und erhobenem Kopf, fühlte er sich stets gebeugt, als suchte eine kleinere Figur Schutz in seiner Haut, die sich zusammenduckte, ohne jemals aufzusehen.“ Bei der Beerdigung der Großeltern fröstelt Alma, „als liefe ihr kaltes Wasser durch das Rückenmark, als wären alle Knochen Rohre mit eisiger Flüssigkeit“.
Es sind Bilder wie diese – meistens melancholisch, teils sogar schauerlich-dunkel –, mit denen Valerie Fritsch das Lebensgefühl ihrer kriegstraumatisierten, um ihr Glück betrogenen Figuren und deren Welt beschreibt. Die Autorin beweist hierbei einen geschärften Blick für Details. Dazu passt wahrscheinlich, dass sie eben nicht nur als Autorin, sondern auch als Fotografin tätig ist. Gerade bei ihren Naturbeschreibungen hat man manchmal das Gefühl, mit ihr gemeinsam durch eine Kameralinse zu blicken. Auf valeriefritsch.at werden einige ihrer ausdrucksstarken fotografischen Arbeiten präsentiert.
Warum noch toll?
Ein ganz besonderer Kunstgriff ist die Figurenkonstellation „Großvater vs. Emil“: Der alte Mann, dem es vor Schmerz quasi die Sprache verschlagen hat, bildet das Gegenstück zu seinem Enkel, der keinen Schmerz fühlen kann. Was beide verbindet, sind die reparierten Blessuren an und in ihren Körpern, sie sind „voller Ersatzteile innen drin“. In Emils Fall handelt es sich dabei um „Metallplatten, Stahldrähte und Titannägel“, im Falle des Großvaters um „metallene Herzklappen der Firma Johnson & Johnson“.
Und auch der Umstand, dass Alma so heißt, wie sie heißt, hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine tiefere Bedeutung. Denn man erfährt zwar nicht, wo genau in Kasachstan der Großvater in Kriegsgefangenschaft war, doch es liegt nahe, dass es sich hierbei um das Lager in Alma-Ata (heute Almaty) handelte. Nicht zuletzt deshalb, weil Ata Großvater bedeutet. Alma ist der Apfel. Das Sprichwort vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, ist da nur einen kleinen Gedankensprung entfernt …
Wem gefällt’s?
Leserinnen und Lesern, die sich für die Kriegsenkel-Thematik interessieren. Bereits 2013 hat Sabine Bode hierzu ein vielbeachtetes und ebenfalls sehr empfehlenswertes Sachbuch veröffentlicht (Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation, erschienen bei Klett-Cotta). Herzklappen von Johnson & Johnson bildet zu diesem Titel sozusagen die literarische Ergänzung.