Miss Marple lässt grüßen
Rezension von Julia Hartel
So viel vorweg
Auf Mord in Sunset Hall war ich gespannt wie ein Flitzebogen. Ich kannte von Leonie Swann nämlich bisher nur den Schafskrimi Glennkill – der in meinen Augen ein Geniestreich ist. Hier kann Swanns jüngster Kriminalroman imho nicht mithalten. Einige Stärken hat es aber dennoch, sodass ich sozusagen eine „eingeschränkte Empfehlung“ aussprechen möchte. 😉
Worum geht’s?
Es geht um eine außergewöhnliche britische Senioren-WG. Initiatorin des Wohnprojekts ist Agnes Sharp, die bei sich eine große Diskrepanz zwischen dem „Innen“ (scharfer Verstand) und dem „Außen“ (kaputte Hüfte, fragwürdige Artikulation ohne die dritten Zähne, fieser Tinnitus) wahrnimmt. Bei den meisten ihrer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im Haus „Sunset Hall“ sieht es ähnlich aus. Doch alle eint das gleiche Anliegen: im Alter selbstbestimmt zu bleiben, die Lebensfreude zu behalten und das eigene Dasein in Würde zu Ende zu bringen. Dieses Konzept scheint auch ganz gut zu funktionieren. Umso überraschender, dass WG-Genossin Lillith eines Tages mit einer Kugel im Kopf im Gartenschuppen liegt. Kurz darauf werden in der Nachbarschaft noch zwei weitere ältere Damen ums Leben gebracht. Schnell erkennt die WG-Gemeinschaft: Die Polizei ist mit den Fällen vollkommen überfordert. Und so begeben sich die sechs kauzigen Herrschaften – gern mit Schildkröte Hettie und Hund Brexit im Schlepptau – kurzerhand selbst auf Verbrecherjagd.
Stilistisches et cetera
Swann schreibt ausgesprochen frisch und witzig. So steht beispielsweise Agnes dem felligen WG-Neuzugang Brexit – vor allem eigentlich seinem Namen – anfangs recht skeptisch gegenüber: „Für sie war Brexit etwas, das Tag für Tag bis zum Abwinken im Radio stattfand. Haarig, sicher, aber nicht so haarig.“
Auch versteht sich die Autorin gut darauf, ihre Leserschaft immer mal wieder auf eine falsche Fährte zu locken. Dies tut sie, indem sie aus der Sicht verschiedener Figuren (unter anderem aus der Sicht Hetties) erzählt, wobei sich die Informationen dann aber oftmals als nicht ganz verlässlich erweisen …
Was schade ist: Teile der Handlung und einzelne Charaktere wirken etwas überzeichnet und dadurch unglaubwürdig bzw. einfach flach. Ich hatte beim Lesen mehrmals Gedanken wie: „So verhält sich doch in so einer Situation kein Mensch!“, oder: „Hm, war klar, dass das jetzt passieren würde.“ Zudem dauerte es bis sage und schreibe Seite 284, bis die erste für mich wirklich spannende Stelle kam (bei 446 Romanseiten). Mit anderen Worten: Das Buch hat Längen, und die Spannungskurve flacht leider immer wieder ab.
Warum trotzdem auch toll?
Weil Swann im Zusammenhang mit dem Thema „Lebensabend in Würde“ ebenso wichtige wie schwierige ethisch-moralische Fragen aufwirft – und ebenso klare wie kühne Antworten anbietet. Diesbezüglich wird mir Mord in Sunset Hall also definitiv länger im Gedächtnis bleiben.
Zum anderen wird es im letzten Drittel des Buches auch in psychologischer Hinsicht interessant, wenn nämlich bei Agnes plötzlich Erinnerungen an bisher Verdrängtes aufploppen, mit dem man nicht gerechnet hätte und durch das vieles in einem anderen Licht erscheint.
Und wie gesagt: Die Geschichte und der Schreibstil bringen einen durchaus zum Schmunzeln (etwa wenn sich die Damen und Herren im Salon niederlassen „wie ein sehr höflicher Schwarm Krähen“ oder wenn „laute, langbeinige Insekten … wild gestikulierend“ durch Räume schweben). Ohne meinen von Glennkill vorbelasteten Erwartungshorizont hätte ich wahrscheinlich weniger herumgemeckert.
Wem gefällt’s?
Ich persönlich habe mich bei dem leicht skurrilen Seniorentrupp mit seinem Hang zum gelegentlich makabren Humor an Miss Marple und Mister Stringer erinnert gefühlt. Dies gilt besonders für Agnes, die passenderweise vor ihrer Pensionierung als Kriminalbeamtin tätig war und sich zur Aufklärung der rätselhaften Fälle auf eine riskante „Undercover-Mission“ begibt. Miss-Marple-Fans dürften demnach bei Mord in Sunset Hall auf ihre Kosten kommen.
Liebste Julia Hartel,
Mir genügt schon deine Besprechung zu lesen, die ist schon ein prickelnder Genuss für sich.
Glennkill kenne ich noch, das hat mir damals auch sehr gefallen.
Liebste Grüße
Verena Ganzleben