Anna Katharina Hahn: Der Chor (Suhrkamp)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Der Chor“ von Anna Katharina Hahn

Im Singen entzweit

So viel vorweg

Den neuen Roman Der Chor von Anna Katharina Hahn musste ich schon deshalb lesen, weil eine ehemalige Lektorin darin vorkommt. 😉 Außerdem war ich ja von Aus und davon – und davor schon von Kürzere Tage – ziemlich angetan und hatte daher auch an diesen neuen Titel hohe Erwartungen. Ich muss aber leider sagen, dass ich das eine oder andere an ihm auszusetzen habe.

Worum geht’s?

In Anbetracht des Titels ist es wohl keine allzu große Überraschung: In Der Chor geht es um einen ebensolchen, genauer gesagt um Stuttgarter Laiensängerinnen, die sich „Cantarinen“ nennen. Erzählt wird aus der Perspektive von Alice, einer beruflich sehr erfolgreichen Frau mittleren Alters, die das Singen als wertvollen Ausgleich zu ihrem stressigen Job empfindet. Seit dem Ende der Pandemie kann auch endlich wieder normal geprobt werden.

Alice freut sich immer, bei den Proben ihre ältere Freundin Lena zu treffen (das ist die besagte pensionierte Lektorin). Allerdings gibt es ihr auch jedes Mal einen Stich, wenn ihr Marie über den Weg läuft, mit der sie ebenfalls einmal sehr eng befreundet war. Außerdem verwirrt es sie, wie sehr sie sich für die Studentin Sophie interessiert, die neuerdings an den Proben teilnimmt.

In Alices Leben häufen sich also die Fragezeichen: Warum hat Marie auf so eigenartige Weise mit ihr gebrochen? Was ist das Geheimnis hinter Sophie? Wie glücklich ist Alice noch in ihrer Ehe mit Fred, die – anders als geplant und sehnlich erhofft – kinderlos geblieben ist? Muss man sich Sorgen um Lenas Gesundheit machen? Als Alice sich entschließt, Sophie auf eine kleine Recherchereise nach Paris zu begleiten, überschlagen sich die Ereignisse.

Die Kritikpunkte

Ich habe es schon angedeutet: Der Chor hat mir nicht so gut gefallen wie die anderen Titel von Anna Katharina Hahn, die ich kenne. Das lag zum einen an der Textstruktur. Die Handlung ist in 20 Kapitel mit einzelnen eingestreuten Geschichten unterteilt, aber mir hat sich nicht erschlossen, was hinter dieser Einteilung steckt. Aus und davon wirkte auf mich diesbezüglich viel besser durchdacht.

Hauptsächlich bin ich jedoch immer wieder über die Figuren gestolpert: Einiges, was die Autorin sie tun lässt, erschien mir rätselhaft, nicht ganz nachvollziehbar, teilweise sogar abstrus. Keine von ihnen war mir besonders sympathisch; vielmehr empfand ich sie als „schwierig“. Hier spielen zwar auch psychopathologische Aspekte eine Rolle, aber wer sich – so wie ich – gern in Figuren einfühlt und an ihrem Schicksal Anteil nimmt, dürfte sich mitunter schwertun.

Die Pluspunkte

Dass ich das Buch trotzdem hier vorstelle, hat im Wesentlichen drei Gründe: Erstens enthält es eine unerwartete Wendung, die mich wirklich überrascht hat. Zweitens ist die Geschichte insgesamt ungewöhnlich genug, um mir dauerhaft im Gedächtnis zu bleiben. Drittens mag ich Anna Katharina Hahns Schreibstil, der mitunter ein wenig derb ist, mich aber wieder von der ersten Seite an ins Geschehen hineingezogen hat. Das sind für mich wichtige Qualitätsmerkmale.

Natürlich ist es auch interessant, wie Hahn aufs Neue die Stuttgarter Gesellschaft seziert. Frauen aus verschiedensten Milieus treffen aufeinander und sind plötzlich „Chorschwestern“. Toxische Ehen und komplizierte Freundschaften werden ausgeleuchtet, Lebenslügen aufgedeckt. Auch wenn hierbei das ein oder andere Klischee bedient wird, erweist sich die Autorin als kluge Beobachterin. Und außerdem – das sei deutlich gesagt – gibt es im Buch mehr als genug Handlungselemente, die absolut klischeefrei sind!

Wem gefällt’s?

Das Buch könnte grundsätzlich für Menschen interessant sein, die in Chören singen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Cantarinen kein rein klassisches Chorrepertoire pflegen; bei ihnen stehen auch Schlager, Rockballaden sowie Lieblingslieder der estnischen Chorleiterin auf dem Programm. Ansonsten erfordert der Roman eine gewisse Bereitschaft, sich auf unbequeme Charaktere einzulassen. Ist diese Bereitschaft vorhanden, dürfte die Lektüre aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

***

Und hier noch ein Extratipp: Wer ein wirklich rundum überzeugendes neues Buch lesen möchte, möge sich bitte Sörensen hat Urlaub von Sven Stricker besorgen. Das Buch ist bereits der fünfte Teil der Reihe um den im hohen Norden ermittelnden Kommissar und steht den bisherigen Bänden qualitativ in nichts nach, im Gegenteil! Stricker schreibt richtig, richtig gut. Auch hier also wieder eine große Leseempfehlung!

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