Eva Strasser: Wildhof (Wagenbach)

Rezension von Julia Hartel

Hier fliegen Töpfe


So viel vorweg

Dass mich die Leseprobe eines Romans nicht loslässt und ich es gar nicht erwarten kann, bis er erscheint, ist selten der Fall. Hier war es so – Eva Strasser hatte mich sofort am Haken. Die Sorge, bei so viel anfänglicher Euphorie könnte ich vom Rest des Buches eigentlich nur enttäuscht werden, war zum Glück auch unbegründet. Wildhof ist eines der Bücher, die wie ein Film im Kopf ablaufen. Und das wiederum ist kein Wunder: Eva Strasser ist Drehbuchautorin.

Worum geht’s?

Das Buch erzählt die Geschichte von Lina, einer Frau um die dreißig, die das Haus ihrer Kindheit auflösen und ihre Eltern bestatten lassen muss. Diese Mammutaufgabe wird nicht leichter dadurch, dass Lina ihre Zwillingsschwester Luise nicht mehr an ihrer Seite hat. Denn die ist verschwunden. Weil das Leben zu dritt seit diesem Verschwinden ein reines Fiasko war, hat sich Lina von ihren Eltern gelöst und ist in die Großstadt gezogen.

Als sie nun nach einem Jahrzehnt zum ersten Mal wieder in ihren kleinen, malerischen Heimatort zurückmuss, fallen die Erinnerungen nur so über sie her – ebenso wie alte Bekannte. Doch vieles, was ganz früher gut war, ist inzwischen ganz und gar nicht mehr gut. Für Lina steht außer Frage, dass sie hier schleunigst wieder verschwinden muss. Also muss auch ihr Elternhaus, das schöne alte Haus am Wald, so schnell wie möglich verkauft werden. Doch es hat Lina noch etwas zu sagen.

Stilistisches et cetera

Eva Strasser nimmt uns mit in Linas Kopf und nicht immer Rücksicht auf Schreibkonventionen. Erzählt wird im Präsens. Es gibt viel erlebte Rede, die mitunter fast in Richtung Bewusstseinsstrom geht. Dass der Ton zwischen schnodderig (oder sagen wir: leger) und zart changiert, macht die Sprache ebenso modern wie einzigartig. 

Manche Sätze fließen Zeile um Zeile weiter, weil einfach ein Gedanke an den nächsten gereiht wird, assoziativ, also so, wie jemand denkt und sich erinnert, es gibt „echte“ wörtliche Reden in Anführungszeichen, dann wieder werden Reden anderer Personen ohne Anführungszeichen in Linas Wahrnehmungen eingeschoben, alles Techniken, die dazu führen, dass man Absatz für Absatz weiterlesen muss, ein einziger Sog. Ich war von der ersten Sekunde an auf diesem Grundstück, wo der alte Walnussbaum mal tröstend, mal wie „ein in die Wiese gebannter Zombie“ die Arme ausstreckt, und in diesem Haus, wo Töpfe durch die Küche poltern, wenn Lina wütend wird.

Warum noch toll?

Beim Lesen der Inhaltsangabe mag der eine oder die andere gedacht haben: „Hm, gab es so was nicht schon hundertmal?“ Das wäre nachvollziehbar, aber ich kann versichern, dass Wildhof wirklich ein ungewöhnliches Buch ist.

Neben der beschriebenen besonderen Sprache ist auch die Hauptfigur besonders: Obwohl sie schon alle möglichen Therapien ausprobiert hat, wird sie mit ihrem emotionalen Ballast nicht fertig. Immer wieder verliert sie die Kontrolle. Zu vieles ist in ihrem Leben unbeantwortet. Dementsprechend schwappen die Gefühle in diesem Roman regelrecht über: Da sind Wut, Trauer und Angst, aber auch und vor allem Liebe und die Sehnsucht nach Glück.

Lina hat zudem eine geheimnisvolle Verbindung zur Tierwelt und zur Natur, die in der Geschichte in Form von Märchen- oder Fantasyelementen zutage tritt. Diese ganze spezielle Atmosphäre und der Umstand, dass die Handlung auf eine Auflösung mit unerwartetem Twist hinausläuft, machen das Buch spannend – keine Selbstverständlichkeit, wenn sich so vieles im Inneren abspielt. Eins wird in dieser Geschichte jedenfalls klar: Manchmal ist es nicht (nur) die Zeit, die alle Wunden heilt!

Wem gefällt’s?

Das ist in diesem Fall wirklich nicht leicht zu beantworten. Der Roman hat viele Facetten und lässt sich schwer mit anderen vergleichen. Vielleicht so: Wildhof könnte ein Buch für Leute sein, die eine moderne Sprache schätzen und die es spannend finden, wenn eine scheinbar konventionelle Plotidee eine überraschende Wendung nimmt.

***

Ein Funfact zum Schluss: In Katharina Hagenas neuestem Roman Flusslinien, der nicht lange nach Wildhof erschienen ist und den ich auch sehr gern gelesen habe, kommt schon wieder ein verschwundener Zwilling vor! Zufall oder neues Trendmotiv? Ich fand es jedenfalls berichtenswert! 🙂

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