Isabelle Autissier: Acqua alta (mareverlag)

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans „Acqua alta“ von Isabelle Autissier

Worst Case für einen Sehnsuchtsort

So viel vorweg

Kurz nachdem ich die ersten Seiten von Acqua alta gelesen hatte, war Venedig in den Schlagzeilen: Die Stadt, erfuhr man, erhebe testweise eine Eintrittsgebühr, um die Ströme von Tagesgästen etwas einzudämmen. Eine gute Idee? Ärgerliche Abzocke? Oder in erster Linie ein wenig nachhaltiges, aufwendiges Manöver, das allenfalls einen Teil der Probleme lösen könnte? Jetzt, nach der Lektüre von Isabelle Autissiers dystopischem Roman, bin ich am ehesten geneigt, Letzteres zu glauben.

Worum geht’s?

Im Jahr 2021 ist die Lagunenstadt von einem so gewaltigen Hochwasser heimgesucht worden, dass ein Großteil der weltbekannten alten Gemäuer nicht mehr standgehalten hat und eingestürzt ist. Einige Monate später fährt Guido Malegatti, Wirtschaftsrat von Venedig, mit einem Boot durch die Trümmer. Er ist entsetzt über das Ausmaß der Schäden. Seine Frau Maria Alba ist bei der Katastrophe höchstwahrscheinlich ums Leben gekommen; wo seine 18-jährige Tochter Léa ist, weiß er nicht.

Nachdem er das Hochwasser in Gedanken noch einmal durchlebt hat, springt die Handlung zurück. Abwechselnd wird aus der Perspektive von Vater, Mutter und Tochter die Vorgeschichte erzählt: Léa begreift als Architekturstudentin schlagartig, in welcher Gefahr Venedig und die Lagune aufgrund des Meeresspiegelanstiegs und anderer menschengemachter Umweltschäden schweben. Sie entscheidet sich für ein Leben als Umweltaktivistin. Maria Alba, die einer alten venezianischen Adelsfamilie entstammt und sich hauptsächlich für Luxusgüter und feine Speisen interessiert, steckt lange Zeit den Kopf in den Sand. Der von Geld und Macht besessene Guido schlägt alle Warnungen diverser Fachleute, die Stadt werde früher oder später untergehen, in den Wind. Er macht sich lieber Gedanken darüber, wie sich mit dem Massentourismus Profit erzielen lässt, als sich für umfassende Maßnahmen zur Rettung Venedigs einzusetzen. Und so kommt es, wie es kommen muss.

Stilistisches et cetera

Auf sprachlicher Ebene hält der Roman keine großen Überraschungen bereit, doch Isabelle Autissier hat offenbar flüssig und anschaulich formuliert, denn genauso liest sich die Übersetzung von Kirsten Gleinig. So ist beispielsweise gut vorstellbar, was Guido erblickt, als er zum ersten Mal wieder durch die Kanäle der Serenissima gleitet:

Die berühmte Front des Dogenpalastes, die Säulen, die Spitzbogen und der Balkon sind nur noch ein Haufen Schutt, der sich über den Kai erstreckt und sich mit den Wracks der Vaporetti mischt, die vor sich hin rosten. Auch die beiden seitlichen Mauern sind teilweise eingestürzt. Erhalten geblieben ist einzig die Rückwand, an der die jetzt in alle Richtungen offenen Stockwerke seltsam hängen, was das Ganze wie ein altes Puppenhaus aussehen lässt. Im Licht blitzen die vergoldeten Elemente auf wie Grabkerzen.

S. 13 f.

Acqua alta ist auch insgesamt sehr angenehm zu lesen. Manche Kapitel sind relativ kurz, andere etwas länger, und obwohl man ja weiß, wie das Ganze ausgeht, ist der Autorin ein beeindruckender Spannungsbogen gelungen.

Warum noch toll?

Das Buch ist Roman und Sachbuch zugleich. Einerseits wird die tragische Geschichte einer Familie erzählt, deren Mitglieder einander verlieren, weil sie unvereinbare Interessen verfolgen. Diese Dynamiken werden sehr glaubhaft dargestellt und sinnvoll mit der Gesamthandlung verbunden.

Andererseits gründet Acqua alta auf Fakten, die Autissier gründlich recherchiert und ebenfalls geschickt mit der Geschichte verwoben hat. Eine wichtige Rolle spielt hierbei das real existierende Sturmflutsperrwerk MO.S.E., ein Milliardenprojekt, das von vielen als Allheilmittel betrachtet wird, während andere es weder für zuverlässig noch für umweltverträglich halten. Guido Malegatti wird als strikter Befürworter dieser Lösung präsentiert. Er und sein Lager wollen nicht einsehen, dass man bei den Ursachen des steigenden Wasserstandes und des Hochwasserrisikos ansetzen müsste, statt nur das Hochwasser selbst zu bekämpfen – zumal die Technik ja versagen kann (was im Buch dann auch geschieht). Das Gleichgewicht von Wasser und Land, das der Mensch unter anderem durch die Vertiefung von Kanälen, den permanenten Schiffsverkehr und die Trockenlegung von Sumpfgebieten durcheinandergebracht hat, müsste so weit wie möglich wiederhergestellt werden. Doch Guidos Fokus liegt auf klingelnden Kassen. Ein fataler Irrweg.

Wem gefällt’s?

Acqua alta ist etwas für Fans von Romanen mit starkem Realitätsbezug und dürfte besonders diejenigen interessieren, die den bedrohten Sehnsuchtsort Venedig schon einmal besucht haben. Dank der Kombination aus packender Geschichte und interessanten Hintergrundinformationen liefert das Buch jede Menge Stoff zum Nachdenken – auch und nicht zuletzt über persönliche Konsequenzen, die man möglicherweise aus der Lektüre ziehen möchte.

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