Ein Wartezimmer voller Geschichten
Buchbesprechung von Julia Hartel
So viel vorweg
Katharina Hagena wurde durch ihren Roman Der Geschmack von Apfelkernen (2008) bekannt, eine ganz wunderbare Geschichte, die 2013 sogar ins Kino kam. Im Jahr zuvor, also 2012, war Vom Schlafen und Verschwinden erschienen (ebenfalls ziemlich großartig!), Das Geräusch des Lichts folgte 2016. Alle genannten Werke zeichnen sich durch einen unverwechselbaren Stil aus – aber auch und vor allem durch den Einfallsreichtum der Autorin und ihre besondere Fähigkeit, glaubwürdige Figuren zu modellieren.
Worum geht’s?
Das Besondere an Hagenas jüngstem Roman ist dessen Form: Er besteht aus mehreren Episoden, nämlich den Geschichten von Menschen, die alle gemeinsam im Wartezimmer eines Nervenarztes sitzen. Allerdings spielen sich die Begebenheiten nur in der Fantasie der Ich-Erzählerin ab, die eine der Wartenden ist.
Aus der jungen Frau neben sich macht sie eine Botanikerin, die kürzlich in Kanada war und dort unsäglichen Geheimnissen auf die Spur gekommen ist – oder hat sie sich das eventuell alles nur eingebildet …?? Der Junge, der der Ich-Erzählerin gegenübersitzt, vermutet in ihrer Vorstellung unter jedem Gullydeckel einen möglichen Geheimweg zum Planeten Tschu (Überlegungen, die sogar durch Illustrationen veranschaulicht werden). Der Vater des Jungen will die Geräusche des Nordlichts aufnehmen. Und so weiter.
Alle Episoden bilden also letztlich in sich abgeschlossene Kurzgeschichten, wobei sie aber zugleich durch bestimmte Motive kunstvoll miteinander und mit der Rahmenhandlung verbunden werden. Zuletzt konfrontiert die Ich-Erzählerin uns und sich selbst mit ihrer eigenen Geschichte – und das mit einem für mich ziemlich unerwarteten Ausgang …
Stilistisches et cetera
Katharina Hagena ist ganz offensichtlich eine ausgezeichnete Beobachterin und hat, wie oben schon angedeutet, eine für sie typische Schreibe, die mir sehr gefällt: meist anschaulich, pointiert und schnörkellos, aber auch immer wieder kitschfrei poetisch. Am allermeisten schätze ich jedoch ihren Humor und ihre Sprachspiele. Die „Grammatik des Wartens“ in Das Geräusch des Lichts ist hierfür nur ein Beispiel: Sie enthält Kasus wie den „Stagnativ (Frage: Wird’s bald?)“ oder den „Desperativ (Frage: Wozu überhaupt?)“ sowie Tempora wie das „Absens“, das „Impatiens“, das „Plusquamdefekt“ oder das „Nonfutur“. Ich mag so was einfach. 🙂
Warum noch toll?
Bis auf eine Episode, die sich ein bisschen zieht, liest sich das Buch ausgesprochen kurzweilig. Die vielfältigen Andeutungen und Rätsel lassen einen beim Lesen immer wieder zweifeln, ob man eigentlich alles richtig versteht. Und besonders das aus meiner Sicht überraschende Ende empfinde ich als ausgesprochen gelungen.
Wem gefällt’s?
Wer Filme und Bücher in Episodenform mag und beim Lesen gern ein bisschen knobelt, dürfte die Lektüre von Das Geräusch des Lichts genießen. Mich persönlich hat der Roman sehr beeindruckt und ich werde die Figuren – und ihre im wahrsten Wortsinn fantastischen Erlebnisse – gern noch lange in meinem Kopf herumschwirren lassen.