Rezension von Julia Hartel
Die kinderlose Mutter
So viel vorweg
Die Protagonistin, die uns Verena Keßler in Gym vorstellt, ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade sympathisch. Vielmehr würde ich sie als Antiheldin bezeichnen. Doch auch aus dem Denken und Handeln einer Antiheldin lässt sich etwas lernen, besonders dann, wenn der Humor nicht zu kurz kommt. Also genug des Warm-ups und auf zur ersten Übung!
Worum geht’s?
Unsere besagte – namenlos bleibende und aus der Ich-Perspektive erzählende – Antiheldin braucht dringend einen Job. Ferhat, der Inhaber des edlen Fitnessstudios Mega Gym, bei dem sie sich als Tresenkraft bewirbt, ist skeptisch. Ihr Body ist nicht so ganz „in shape“, sie verkörpert einfach nicht die Ideale seines Studios. Als sie ihm jedoch mitteilt, dass sie gerade erst entbunden habe, gibt er ihr natürlich sofort eine Chance. Schließlich ist er Feminist! Der Haken: Die Ich-Erzählerin ist vieles, aber Mutter ist sie nicht.
Mit umso mehr Elan macht sie sich nun daran, die Story um ihr erfundenes Kind glaubwürdig auszugestalten: Sie leiht sich eine Milchpumpe und gibt vor, in ihrer Pause abzupumpen, zeigt den Kolleginnen fremde Babyfotos und führt gefakte Telefonate mit ihrer angeblich babysittenden Mutter. Nebenbei beginnt sie, selbst im Studio zu trainieren. Denn dass ihrer jungen, wohlproportionierten Kollegin Milli viel mehr Proteinshakes abgekauft werden als ihr, wurmt sie gewaltig.
Parallel dazu wird in Form von Rückblenden die Vorgeschichte erzählt. In ihrem damaligen Leben drehte sich für die Protagonistin alles um die Karriere, mit negativem Effekt auf ihre sozialen Beziehungen. Richtig problematisch wurde es, als sie einen versprochenen leitenden Posten nicht bekam. Was dieses Problem von damals mit ihren Trainingszielen in der Jetztzeit zu tun hat, sollte ich nicht verraten. Klar ist: Es besteht ein Zusammenhang zu meiner oben getroffenen Aussage bezüglich des Sympathiefaktors …
Stilistisches et cetera
Die nächste Übung wird eine Herausforderung – es gibt viel zu diesem Buch zu sagen! Am besten immer schön ein- und ausatmen und kräftig weiterlesen …
Verena Keßler geht mit ihrer Geschichte gleich auf den ersten Seiten von null auf hundert. Dabei bedient sie sich einer sehr modernen, lockeren Sprache und treffsicherer Formulierungen. Als die Ich-Erzählerin beispielsweise ihren ersten Proteinshake probiert, erinnert sie dieser an „Capri-Sonne mit Mehlschwitze“ (S. 15). Dennoch ernährt sie sich später selbst fast nur noch von Proteinen und nimmt dafür sogar unschöne Auswirkungen auf ihr Verdauungssystem in Kauf. Die entsprechenden Szenen lesen sich nicht eben appetitlich, bilden aber einen gelungenen Kontrast zu den Beschreibungen der spiegelblanken, desinfizierten Gym-Welt.
Wie zeitgeistig das Buch ist, hat die Inhaltsangabe wahrscheinlich schon deutlich gemacht. Es verhandelt Themen wie den heutigen Fitness- und Schlankheitswahn in Verbindung mit Bodyshaming, außerdem die Vereinbarkeit von Familie und Karriere, das Frausein im 21. Jahrhundert sowie Obsessionen verschiedenster Art. Viele Absurditäten unserer Zeit werden aufgegriffen und gnadenlos durchleuchtet. Selbst das Phänomen Thermomix kommt auf den Prüfstand.
Das Leben der Ich-Erzählerin wirkt wie ein einziger verbissener Kampf, den sie traurigerweise hauptsächlich gegen andere Frauen führt. Dass sie im Kern eigentlich unzufrieden mit sich selbst ist, wird immer wieder angedeutet. Dass dies wiederum in unaufgearbeiteten Kindheitserlebnissen wurzelt, ebenfalls. Im Grunde kann man also fast Mitleid mit ihr haben.
Aber: Es gibt im Buch sehr wohl auch Figuren, die im Leben nicht dauernd nur den Ellenbogen einsetzen, obwohl sie vielleicht vergleichbare Probleme haben. Ja, das Leben ist schwierig. Oft ist es himmelschreiend unfair. Menschen werden an ihrem Äußeren gemessen, Mütter werden im Arbeitsleben überholt, andere Frauen können trotz eines sehnlichen Kinderwunsches gar nicht erst Mutter werden etc. Vieles liegt außerhalb unserer Kontrolle. Doch die Welt wird nicht besser, wenn wir nicht wenigstens versuchen, einander zu unterstützen. Wir selbst haben die Wahl, wir wie uns verhalten wollen! Dies ist eine der Botschaften, die sich aus dem Buch herauslesen lassen.
Warum noch toll?
Die letzte Übung wird leicht: Gym ist ein kluger Roman, der aktuelle Probleme reflektiert, liest sich aber äußerst kurzweilig. Etliche Szenen sind zum Schmunzeln, etwa die über die saunierenden Rentner, die Ferhat gern in ein Gespräch verwickeln:
… und Ferhat ließ sich gern darauf ein, kannte sie alle beim Vornamen, schäkerte und scherzte mit ihnen herum – Mensch, Walter, na, einmal garkochen, oder was? –, und dann lachten sie beide, und Ferhat klopfte Walter auf die runzelige, nackte Schulter.
(S. 26)
Ein Kompliment verdient zudem der Spannungsbogen: Von Anfang an will man unbedingt wissen, was diese dreist (womöglich sogar zwanghaft?) lügende Person angestellt, was sie an diesen Punkt gebracht hat. Dies ist nicht zuletzt strukturell überzeugend umgesetzt: Rückblenden und Jetztzeit werden am Ende geschickt zusammengeführt.
Wem gefällt’s?
Fast geschafft, hier der Cooldown: Gym erfüllt viele Kriterien eines feministischen Romans, funktioniert aber nicht etwa nach dem Prinzip „Frau kommt aus ihrer Opferrolle, überschreitet dabei moralische Grenzen und ist dennoch im Recht“. Die Autorin nähert sich dieser ganzen Thematik in differenzierterer Weise. Gleichzeitig sorgen die ungewöhnliche Story und die satirische, überzogene Darstellung für Unterhaltung.
Noch eine kurze Warnung zum Schluss: Wer über körperliche Gewalt sowie über den Konsum von Steroiden mitsamt seinen grausigen Auswirkungen nichts lesen will, sollte die Finger von diesem Buch lassen!