Buchblog

Mariana Leky: Kummer aller Art (DuMont)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Kummer aller Art“ von Mariana Leky

Ein Bändchen voller Kunstwerke

So viel vorweg

Meine Lieblingsautorin Mariana Leky hatte so lange kein neues Buch mehr herausgebracht, dass ich schon ganz zappelig war. Umso tragischer, dass ich Kummer aller Art dann gleich wieder in gefühlten 20 Minuten durchgelesen hatte. Dazu muss aber gesagt werden, dass es sich diesmal nicht um einen 300-Seiten-Roman, sondern um einen (leider!) eher schmalen Band mit einer Sammlung literarischer Kolumnen handelt, die die Autorin erstmalig in Psychologie Heute veröffentlicht und für die Buchausgabe überarbeitet hat.

Worum geht’s?

Leky erzählt in ihren Texten von Gesprächen und Erlebnissen mit Menschen aus ihrem Freundeskreis, ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft. Im Zentrum steht jeweils ein psychologisches Thema: Einmal tauscht sie sich mit ihrer Nachbarin Frau Wiese über die Unannehmlichkeiten der Schlaflosigkeit aus, dann wieder erzählt ihr Freund Tobias ihr von seinem Zwang, vor jedem Verlassen des Hauses zwölf Mal den längst ausgeschalteten Herd kontrollieren zu müssen. Ab und zu geht es um Begegnungen mit Fremden, etwa mit einem Orthopäden, von dem sich die Autorin sehnlichst eine Schmerzspritze wünscht, der ihr aber stattdessen mit hintergründigem Lächeln und überschaubarem Therapieerfolg nur empfiehlt, in ihr lädiertes Knie „hineinzuspüren“.

Anders als man vermuten könnte, hat Leky selbst gar keine psychologische Ausbildung, sondern eine Buchhandelslehre und ein Kulturjournalismusstudium absolviert. Dafür scheint jedoch ihre halbe Verwandtschaft aus Psychotherapeutinnen und Analytikern zu bestehen – ein Umstand, den man vermutlich erst mal verarbeiten muss. 😉

Stilistisches et cetera

Eine unterhaltsame und handwerklich gut gemachte Kolumne wird ja in Zeitschriften häufig als Erstes gelesen. Jedenfalls mache ich das so, und wäre ich eine regelmäßige Leserin von Psychologie Heute, hätte ich es in diesem Fall definitiv getan! Jede Geschichte stellt ein in sich rundes kleines Kunstwerk dar, vorbildlich entlang des obligatorischen roten Fadens erzählt und gern mit einer auf den Textanfang bezogenen Schlusspointe garniert.

Auch im Detail trifft die Autorin mit ihrer Art, sich auszudrücken, mit dieser Mischung aus Melancholie und Witzigkeit, meinen Lesegeschmack wieder zu 100 Prozent. Ebenso lakonisch wie geschliffen beschreibt sie die Qualen durchwachter Nächte, in denen unter Umständen nicht nur echte unbezahlte Rechnungen das Gedankenkarussell antreiben:

In schlaflosen Nächten wimmelt es von Mahnungen, sie segeln von oben aufs Bett herunter und sind ohne Unterschrift gültig. Leider haben Sie trotz mehrfacher Aufforderung die Muskelaufbauübungen für den unteren Rücken erneut nicht gemacht. Leider haben Sie es zum wiederholten Mal versäumt, Ihre unglückliche Tante Traudl zurückzurufen. […] Leider haben Sie es trotz mehrfacher Mahnungen versäumt, nicht alles falsch zu machen.

(S. 17)

Jaja, Mahnungen dieser Art haben vermutlich die meisten von uns schon mal erhalten …

Was gibt es noch zu sagen?

Erst durch die Textsorte Kolumne ist mir klargeworden, wie sehr mich Mariana Leky an den ebenfalls verehrungswürdigen Axel Hacke erinnert. Seine Werke, etwa die Kolumnensammlung Das Beste aus meinem Leben, sein Deutschlandalbum oder die Wumbaba-Reihe, sind von einer ganz besonderen Schreibe geprägt, die journalistisch präzise, mitunter flapsig und im nächsten Moment fast wieder übertrieben elaboriert daherkommt. Siehe Leky: Frau Wiese und sie sitzen übermüdet im Treppenhaus „wie zwei windschiefe Eulen“, aber die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn löst bei ihr nicht einfach „Stress“, sondern eine „kapitale Unrast“ aus. Das könnte so oder ähnlich auch von Hacke stammen.

Ach so, da ich gerade schon beim Erinnern bin: Kummer aller Art erinnert nicht zuletzt an Leky selbst. Genauer gesagt hat ihr Nachbar Herr Pohl eventuell einiges mit dem Optiker aus Was man von hier aus sehen kann gemeinsam, während mich die Beschreibungen von Therapiemaßnahmen zur Bekämpfung von Angststörungen an Szenen aus Erste Hilfe denken ließen. Und da ich diese Bücher so mag, waren das logischerweise ausgesprochen angenehme Erinnerungen.

Wem gefällt’s?

Das ist eigentlich schon beantwortet: Mariana-Leky-Fans, Axel-Hacke-Fans und allen, die in Zeitschriften immer zuerst zur Kolumne blättern – sofern sie richtig gut ist.

Wolf Haas: Müll (Hoffmann und Campe)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Müll“ von Wolf Haas

Vom Kripomann zum Mistler

So viel vorweg

Ja, schon wieder ein Krimi! Ich hätte ihn vielleicht gar nicht gelesen, wenn er nicht von meinem großen Vorbild Axel Hacke empfohlen worden wäre. Wurde er aber, und das war sehr gut so! Denn obwohl es erwartungsgemäß auch in diesem Krimi um menschliche Abgründe geht, habe ich mich beim Lesen wieder köstlich amüsiert. Wenn jemand so übertrieben kauzig schreibt, kann ich leider nicht ernst bleiben, Mord hin, Leiche her.

Worum geht’s?

Um den neuesten Fall des Wiener Polizisten Brenner, der eigentlich gar kein Polizist mehr ist, sondern Müllmann – auf gut Österreichisch „Mistler“. Auf seinem Recyclinghof tauchen eines Tages zwischen Elektroschrott, Styropor und Bioabfällen die Einzelteile einer Leiche auf. Kurz darauf, nämlich genau „eine Viertelstunde nach dem ersten Knie“, treffen die Kripobeamten Savic und Kopf ein. Sonnenklar, dass die beiden bei der Aufklärung des Falls durch den früheren Kollegen Brenner unterstützt werden. Letzterer zeichnet sich übrigens durch eine gewisse, sagen wir, moralische Flexibilität aus … Was das bedeutet und was die Recyclinghof-Besucherin Iris, der Praktikant Coco und das Transportunternehmen Tobias mit dem zerstückelten Toten zu tun haben, wird hier nicht verraten. Klar ist jedenfalls: Man möchte dieses Buch kaum aus der Hand legen.

Stilistisches et cetera

Der Schreibstil ist eine echte Ausnahmeerscheinung: Als Leser/-in wird man von der auktorialen Erzählinstanz geduzt! So was ist mir in einem Krimi überhaupt noch nie begegnet. Zudem ist die Ausdrucksweise geprägt von Umgangssprache und Ellipsen, es gibt jede Menge Kommentare und Bewertungen, die Erzählinstanz verschweigt Details, dann wieder verplappert sie sich. Man hat immer das Gefühl, mit ihr am Küchentisch zu sitzen und die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes erzählt zu bekommen:

Aber der jetzige Praktikant hat [den Mistlern] Rätsel aufgegeben. Weil der war zaundürr, keine Statur, kein Garnichts, bei dem hast du dich wirklich gefragt, wie er es schafft, ohne Wirbelsäulenschaden seinen Haarknödel zu tragen, aber der hat Damenbesuch gehabt, das glaubst du nicht.

(S. 41 f.)

Auch genau solche wiederkehrenden Floskeln von „das glaubst du nicht“ über „jetzt musst du eines wissen“ bis hin zu „mein lieber Schwan“ und „frage nicht“ sind ein wahres Fest. Alles in allem habe ich mich während der Lektüre dauernd gefragt, was für einem Vogel ich da eigentlich gerade „zuhöre“, konnte mich aber dem makabren Humor nicht entziehen und musste, wie oben erwähnt, öfter und lauter lachen, als es mir angesichts der Textsorte eigentlich angemessen erschien.

Warum noch toll?

Ich könnte mich in langen Reden darüber ergehen, dass das Buch natürlich nicht nur witzig ist, sondern hinter allem Wiener Schmäh auch ernste Töne hervorklingen. Das wäre durchaus zutreffend, wird doch in Müll unter anderem das komplexe Thema Organspende berührt; außerdem spielen schwere Krankheiten, Schuld und Sühne eine Rolle. Da es mir aber derzeit eher nach Humor zumute ist, gebe ich lieber noch ein Beispiel für einen der alltagsphilosophischen Exkurse, mit denen das Buch gespickt ist:

Dem Brenner ist das in seinem Leben schon oft aufgefallen, dass die Leute von der Trauer eine eigene Schönheit bekommen. Da darfst du bei der Beurteilung nie vergessen, vom Menschen die Trauer abzuziehen. Sonst kriegst du ein vollkommen falsches Bild und verliebst dich in die Trauer statt in den Menschen, und später entpuppt sich der als fröhlicher Kobold.

(S. 80)

Angesichts solcher Sätze erstaunt es mich nicht weiter, dass Müll bereits der neunte (!) Band der Brenner-Serie von Wolf Haas ist. Denn da steckt schon ein gewaltiges Suchtpotenzial drin, mein lieber Schwan.

Wem gefällt’s?

Das ist in diesem Fall recht einfach zu beantworten: allen, denen es bei den beiden Textbeispielen spontan die Mundwinkel nach oben gezogen hat. Wer hingegen dachte: „Hilfe, das ist aber anstrengend“, sollte sich lieber anderweitig umsehen, denn dieser Stil wird wirklich von A bis Z so durchgezogen. Ich persönlich hoffe, dass der Autor in absehbarer Zeit noch einen zehnten Band nachlegt.

Sven Stricker: Sörensen am Ende der Welt (Rowohlt)

Rezension von Julia Hartel

Buchcover „Sörensen am Ende der Welt“ von Sven Stricker

Kommissar mit Angststörung

So viel vorweg

Den Autor Sven Stricker hatte ich bis vor Kurzem überhaupt nicht auf dem Schirm. Und das, obwohl ich die 2021 in der ARD ausgestrahlte Verfilmung von Sörensen hat Angst sogar gesehen hatte und ziemlich gut fand. Erst durch den Literaturblog „buchpost“ kam ich auf die Idee, die beiden Folgebände Sörensen fängt Feuer und Sörensen am Ende der Welt zu lesen – nein: zu verschlingen! Denn hier weiß einer wirklich, wie man schreibt.

Worum geht’s?

Um den titelgebenden Kommissar Sörensen, der von einer heftigen Angststörung gebeutelt wird und sich von Hamburg nach Nordfriesland versetzen lässt, um dort endlich ein ruhigeres Leben zu führen. Natürlich geht dieser Plan nicht auf. Kaum in der fiktiven Kleinstadt Katenbüll angekommen, muss Sörensen gemeinsam mit seinem Team einen abstrusen Fall nach dem anderen lösen: Im ersten Teil liegt gleich mal der Bürgermeister ermordet im eigenen Pferdestall. Im zweiten Teil bekommt es die Polizei mit einer verbrecherischen religiösen Sekte zu tun. Und in Sörensen am Ende der Welt spielen einige nicht minder gefährliche Prepper eine prominente Rolle.

So viel kriminelle Energie auf einmal, noch dazu an einem beschaulichen Ort wie Nordfriesland? Ja, das glaubt man irgendwann nicht mehr so richtig, aber die Bücher kokettieren genau damit und machen so die mangelnde Plausibilität verzeihlich. Und überhaupt: In Miss Marples Heimatdorf St. Mary Mead geschehen schließlich auch 16 Morde in 40 Jahren. Hinterfragt das irgendjemand? Eben.

Stilistisches et cetera

Sven Stricker schreibt köstlich. Obwohl die Handlung durchaus schaurig und die Stimmung oft bedrückend ist, musste ich einfach immer wieder kichern. Sätze wie „Eilig stieg [die Kommissarin] aus und sah zu, wie Ólíver davonfuhr“ (jüngst mit großer Langeweile so gelesen in Dunkel von Ragnar Jónasson) gibt es bei Stricker nicht. Wenn Sörensen aus dem Auto aussteigt, klingt das so:

Er schloss den Passat ab, der Boden war lehmig und tief, er versaute sich Schuhwerk und Hosenbeine, über ihnen rasten die Wolken dahin, als hätten sie einen Termin im Erzgebirge und wären spät dran.

(S. 339)

Wie gesagt: Sven Stricker weiß, was es heißt, anschaulich und interessant zu formulieren. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, zumeist jedoch aus der Sicht Sörensens. Besonders dessen innere Monologe, aber auch die Dialoge sind hervorragend gestaltet. Die norddeutsch gefärbte Umgangssprache in den wörtlichen Reden wird keineswegs lästig, sondern ist gut dosiert, macht die Figuren lebendig und erleichtert die Einfühlung.

Warum noch toll?

Sörensen ist der wahrscheinlich authentischste Held, der mir seit Langem begegnet ist. Seine Angststörung wird ebenso glaubhaft dargestellt wie seine Vielschichtigkeit. Obwohl er ständig am Leben leidet wie an einem hohlen Zahn, sich am Abgrund entlangtastet und immer wieder fast abrutscht, gibt er sich nie auf. Über seinem Reden und Handeln liegt ein feiner, melancholischer Humor, der eine unbändige Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Lebensfreude widerspiegelt. Wenn er gereizt ist, erweist sich seine Zündschnur – bei aller Empathie – als ziemlich kurz. In seinem Kopf geht es hin und her zwischen Angst, Ärger über andere und sich selbst, Erinnerungen und messerscharfen Reflexionen. Der Anblick zweier spielender Hunde direkt neben einem Leichenfundort weckt in ihm folgende Gedanken:

Ein gnadenloses Bild. Es bewies, dass es im Angesicht der Natur keinen Unterschied machte, ob man da war oder nicht. Parallelwelten, dachte Sörensen. Es gab unendlich viele Parallelwelten auf engstem Raum. Die einzige Schnittmenge war die Benutzeroberfläche.

(S. 87)

Wem gefällt’s?

Sörensen am Ende der Welt sowie die beiden Vorgängerbände sind etwas für Leute, denen Krimis im sachlich-berichtenden Stil zu langweilig sind. Wer beispielsweise Frank Schätzings Mordshunger gelungen fand – ebenfalls sehr kurzweilig geschrieben und voller witziger Dialoge –, wird Strickers Sörensen-Romane mit Genuss lesen.

Viel gelesen, nur teilweise profitiert

Mein durchwachsener Bücherherbst

Dass es in diesem Blog in letzter Zeit so ruhig war, hat selbstverständlich nichts damit zu tun, dass ich nicht gelesen hätte – so etwas kommt bei mir nicht vor. 🙂 Vielmehr konnten mich die drei Neuerscheinungen, die ich mir seit dem letzten Beitrag ausgesucht habe, nicht so richtig vom Hocker reißen. Sehr viel lohnenswerter war da der Griff zu einem vergleichsweise alten Werk, und auch das nochmalige Lesen eines anderen nicht mehr ganz neuen Titels erwies sich als ausgesprochen erfrischend! Diesmal also eine kleine gemischte Tüte mit unterschiedlichsten Büchern von „sehr empfehlenswert“ bis „geht so“.

Marlen Haushofer_Die Wand

Marlen Haushofer: Die Wand (Ullstein, erstmals erschienen 1963)
Die Wand von Marlen Haushofer habe ich mir besorgt, nachdem mir das Buch kurz hintereinander aus zwei völlig verschiedenen Richtungen empfohlen worden war. Es geht darin um eine Frau, die infolge eines rätselhaften Ereignisses gezwungen ist, allein mit ihren Tieren in den Bergen zu überleben. Äußerlich passiert scheinbar wenig, doch der Roman entfaltet eine unglaubliche Sogwirkung, sodass ich ihn innerhalb kürzester Zeit durchgelesen hatte. Nicht umsonst wird dieser Titel seit Jahrzehnten immer wieder aufgelegt.

Anita Augustin: Alles Amok (Ullstein, 2014)
Jakob verdingt sich als Profi-Demonstrant – eine Tätigkeit, von der es sich nicht gerade komfortabel leben lässt. Dann scheint es in beruflicher Hinsicht plötzlich bergauf zu gehen, doch leider entpuppt sich der neue Chef als Tyrann der übelsten Sorte. Außerdem hat Jakob ein ganz spezielles privates Problem … Alles Amok ist definitiv ein heftiges Buch: fies, absurd, extrem religionskritisch und teilweise fast schon psychothrillerhaft. Zugleich besitzt es einen sehr ernsten Kern und ist mit seinen vielen skurrilen Ideen und der clever konstruierten Geschichte wirklich etwas Besonderes. Für mich auch beim zweiten Lesen wieder beeindruckend.

Andreas Moster: Kleine Paläste (Arche Verlag, 2021)
Okay, Kleine Paläste hätte in meinem kleinen Ranking genauso gut auf Platz zwei stehen können. Moster erzählt darin die Geschichte zweier Nachbarsfamilien, die durch eine vertuschte Straftat miteinander verbunden sind. Dank der ungewöhnlichen Erzählperspektive ist das durchaus spannend gemacht! Doch in der Hauptsache behandelt der Roman toxische Männlichkeit und weibliches Ausgeliefertsein. Hätte ich nicht mit Doris Knechts Die Nachricht kurz zuvor etwas thematisch Verwandtes gelesen, hätte mich der Titel wahrscheinlich mehr begeistert. Zudem gehen einzelne Szenen gewaltig unter die Haut. Nicht geeignet als Gegenmittel bei Herbst- und Winterblues!

Ferdinand Schmalz: Mein Lieblingstier heißt Winter (S. Fischer, 2021)
Bevor man sich diesen Roman besorgt, sollte man sich unbedingt die Leseprobe auf der Verlagswebsite zu Gemüte führen (hätte ich besser auch tun sollen). Denn der Klappentext verspricht eine Art Krimikomödie: Der Tiefkühlkostvertreter Hans Schlicht soll eine Leiche transportieren, findet diese jedoch nicht am verabredeten Ort vor und muss sich nach ihr auf die Suche machen. Warum die Leseprobe? Weil der österreichische Autor Ferdinand Schmalz sein Werk in einer eigenen, mundartlich gefärbten Kunstsprache verfasst hat: „Und fallen, fallen härter drauf da auf den Kopf von ihm, dem Schlicht, die Sonnenstrahlen, härter drauf als sonst.“ So geht das von der ersten bis zur letzten Seite. Ob da bei irgendjemandem Lesefreude aufkommt?! Bei mir ist sie ausgeblieben.

John Boyne: Maurice Swift – Die Geschichte eines Lügners (Piper, 2021)
Maurice Swift ist ein gefeierter Schriftsteller, hat aber nur dadurch Erfolg, dass er anderen die Ideen klaut. Dabei geht er über Leichen, wobei die Literaturszene sowieso fast ausschließlich aus selbstverliebten, gewissenlosen Subjekten besteht. Etwas undifferenziert und an den Haaren herbeigezogen? Genau, das fand ich eben auch. Hinzu kommt eine teilweise doch recht vulgäre Ausdrucksweise. Die Geschichte eines Lügners ist ein Buch, das man lesen kann, wenn man noch nicht allzu viele Hochstapler-Krimis der Sorte Catch me if you can oder Der talentierte Mr. Ripley kennt. Wer es nicht liest, hat jedoch nichts verpasst.

Doris Knecht: Die Nachricht (Hanser Berlin)

Rezension von Julia Hartel

Die dunkelste Seite von Social Media

So viel vorweg

Ich will ehrlich sein – nach den ersten paar Absätzen von Die Nachricht dachte ich: „O nee, was hab ich mir denn da ausgesucht?! Das ist ja schon wieder eine lebenserfahrene Ich-Erzählerin, die die ganze Zeit nur ihre Gefühle und ihre Beziehungen reflektiert!“ Doch der Verdruss währte kurz: Bereits wenig später hatte ich die Heldin nicht nur ins Herz geschlossen, sondern war auch absolut gefesselt von ihrer Geschichte – und ihrem rätselhaften Problem.

Worum geht’s?

Ruth Ziegler ist Drehbuchautorin und wohnt mit ihrem jüngeren Sohn Benni in einem Haus auf dem Land in der Peripherie Wiens. Ihr Mann Ludwig ist vor drei Jahren bei einem Skiunfall tödlich verunglückt. Sie hat diesen Schicksalsschlag einigermaßen verkraftet, ist durchaus patent, arbeitet fleißig, pflegt ihre Freundschaften, kümmert sich um ihre Stieftochter und deren Baby und ist ziemlich aktiv auf Social Media.

Plötzlich ploppt aus dem Nichts eine anonyme und sehr beunruhigende Nachricht im Postfach ihres Facebook-Accounts auf: „Weisst du eigentlich von der Affaire deines prächtigen Ehemannes?“ Obwohl Ruth tatsächlich davon weiß, bekommt sie Angst, zumal es nicht bei dieser einen Botschaft bleibt und bald auch ihre Freunde und Angehörigen auf diversen Kanälen verunglimpfende, hasserfüllte und beleidigende Nachrichten über sie erhalten. Bald kreist ihr Leben fast nur noch um eine Frage: Welche Person aus ihrem Umfeld schreibt ihr all diese furchtbaren Sachen?

Stilistisches et cetera

Grundsätzlich wird, ähnlich wie im kürzlich vorgestellten Daheim, wenig Wert auf eine besonders geschliffene Ausdrucksweise gelegt. Hier wie dort scheint es den Protagonistinnen wichtiger zu sein, genau hinzuschauen und die Dinge schonungslos beim Namen zu nennen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn es um Ruths Bekannte Iris geht,

… die sich so sehr wünschte, dass ich wieder einen Kerl hätte, einen »Partner«, ein Wort, das ich nicht ertrug, weil in amerikanischen Kitschserien Väter ihre Söhne immer so ansprachen: Partner. Was sollte das? (…) Es regte mich jedes Mal auf. Iris wollte mich wieder als Teil eines Paars sehen, für Paarabende, und damit sich einer um mich kümmerte, und weil sie selber panische Angst davor hatte, allein zu enden.

(S. 229 f.)

Da in der Geschichte soziale Medien eine zentrale Rolle spielen, wird im Text logischerweise das entsprechende „Fachvokabular“ verwendet, das heißt, es wird darin ganz selbstverständlich „geblockt“, „geaddet“, „entfolgt“ etc. Die zum Teil verstörenden Nachrichten streut die Autorin immer wieder in den Text ein, wodurch gut zum Ausdruck kommt, in welchem Maß sie Ruths Gedanken beherrschen. Gelegentlich – etwa in den Dialogen – schimmert ein wenig der Handlungsschauplatz Österreich durch. Allerdings werden österreichische Wendungen und Begriffe auch nicht inflationär verwendet, sondern gerade so, dass es eh charmant ist. 😉

Warum noch toll?

Mit den Aspekten Stalking und psychische Gewalt in sozialen Medien verarbeitet Doris Knecht hochaktuelle Probleme und zeigt vor allem auf, wie schrecklich es ist, wenn Betroffene diesbezüglich nicht ernst genommen werden. Andererseits werden im Buch auch die positiven Seiten des Internets herausgestellt: das Netz als Ort des Austauschs, als Inspirationsquelle, als Chance, Schwarmintelligenz zu nutzen und den eigenen Horizont zu erweitern.

Ähnlich differenziert beschreibt der Roman, obwohl er klar der feministischen Literatur zuzuordnen ist, wie herausfordernd beispielsweise eine gleichberechtigte Rollenverteilung in einer Partnerschaft sein kann. Dies trifft selbst auf Ruth und Ludwig zu, die in dieser Hinsicht nach außen hin immer ausgesprochen modern aufgetreten sind:

In der Unsichtbarkeit unseres Hauses fand Ludwig, dass es einer Frau, die den ganzen Tag herumsaß und schrieb, nicht schaden könnte, davon mal Pause zu machen, Kochpause, Aufräumpause, Kloputzpause. Es nervte mich, dass er meine Arbeit und damit mich nicht ernst nahm, mehr noch: Es machte mich wütend. (…) Nach Ludwigs Tod wurde mir das Ordnungmachen, das ich ihm zu seinen Lebzeiten nicht gegönnt hatte, zur Gewohnheit.

(S. 110 f.)

Wem gefällt’s?

Die Nachricht ist ein spannendes Buch und dürfte außerdem allen zusagen, denen der Schutz von Frauen – online wie offline – ein wichtiges Anliegen ist und die sich gern kritisch, aber differenziert mit Social Media auseinandersetzen.

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert (Kein & Aber)

Rezension von Julia Hartel

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert (Kein & Aber)

Wie gut kennst du deine engsten Vertrauten?

So viel vorweg

Es mag ein Armutszeugnis sein, aber wenn es um Literatur aus Israel geht, wäre mir bisher nur Ephraim Kishon eingefallen. Ihn habe ich als Jugendliche eine Zeit lang leidenschaftlich gern gelesen. Mit Wo der Wolf lauert habe ich meinen Lesehorizont nun endlich erweitert, und zwar auch in Sachen Aktualität. Denn die Kishon-Bücher waren ja, als ich jung war (lang ist’s her!), auch schon nicht mehr ganz taufrisch. Nun also eine topaktuelle israelische Neuerscheinung! Ins Deutsche übersetzt wurde der Text von Ruth Achlama.

Worum geht’s?

Lilach und Michael Schuster haben ihre kriegsgebeutelte Heimat Israel verlassen, um in den vermeintlich sicheren USA ihren Sohn Adam großzuziehen. Lange Zeit sieht es so aus, als hätten sie die perfekte Entscheidung getroffen: Adam scheint ganz behütet aufwachsen zu können, und durch Michaels hervorragend bezahlten Job in Palo Alto im Silicon Valley ist die Familie zu einigem Wohlstand gekommen. Doch dann wird auf die örtliche Synagoge ein Terroranschlag verübt. Die jüdische Gemeinde ist geschockt und zutiefst verunsichert. Adam, inzwischen 16 Jahre alt, nimmt an einem Selbstverteidigungskurs teil. Kurz darauf bricht auf einer Party ein muslimischer Mitschüler von Adam tot zusammen. In Lilach regt sich ein schrecklicher Verdacht: Hat Adam etwas mit diesem Todesfall zu tun? Und kann man eigentlich dem Leiter des Selbstverteidigungskurses, Uri Ziv, so blind vertrauen, wie Michael glaubt?

Stilistisches et cetera

Ayelet Gundar-Goshen lässt ihre Heldin Lilach all diese Geschehnisse, die eigenen Gefühle und auch ihr Umfeld scharfsinnig und schonungslos beschreiben:

Da, wo wir lebten, sagten die Menschen einander alles außer der Wahrheit. Der Kuchen, den du Freunden zum Abendessen mitbrachtest, war unweigerlich amazing, auch wenn du aus Versehen Salz statt Zucker reingeschüttet hattest. Und die Kinder waren immer wonderful, auch wenn sie schon einen Monat lang nicht mehr mit dir geredet hatten.

(S. 188)

Vor allem aber gelingt es der Autorin, der Leserschaft zumindest eine gewisse Einfühlung in die Ängste jüdischer Menschen vor antisemitisch motivierten Gewalttaten zu ermöglichen:

Wir gingen in ein italienisches Restaurant. (…) Mit einem Schlag fielen mir die Stadtbusfahrten in Haifa ein, zur Zeit der Terroranschläge, als jeder Zusteigende als potenzieller Terrorist galt. (…) Ich blickte nach rechts und links, achtete nervös auf jede Regung. Wo der Wolf lauert.

(S. 280 f.)

Trotzdem – und das hat mir mit am besten gefallen – findet in dem Roman keine Schwarz-Weiß-Malerei statt. Vielmehr klingt durch, dass potenziell toxische Ideologien vor keiner Personengruppe und keiner Landesgrenze haltmachen; dass sie besonders für junge Menschen unglaublich gefährlich sein können; und dass es somit verfehlt ist, in den Kategorien „Täter“ und „Opfer“ zu denken. Vielleicht steht der „lauernde Wolf“ letztlich gar nicht nur für den vermummten Attentäter mit der Machete, sondern auch für Hass, Gewalt und Krieg selbst, für die Abwesenheit von Toleranz und für jegliche Form von politischem oder religiösem Fanatismus.

Warum noch toll?

Weil die Geschichte bis zum Schluss spannend bleibt und die Figuren psychologisch sehr gut ausgearbeitet sind. Nicht nur in Bezug auf Uri, der schnell zu Adams großem Idol und zu einem engen Freund der Familie wird, taucht bald die Frage auf, wie gut man einen Menschen eigentlich kennen kann. Gemeinsam mit Lilach tappt man auch im Dunkeln, was Adams mögliche Verwicklung in den Tod seines Mitschülers angeht. Der mütterliche Schmerz darüber, dass sich der erwachsen werdende Sohn immer mehr ablöst und verschließt, die Angst, ihn ganz direkt zu fragen, was er weiß oder vielleicht getan hat – all das wird glaubwürdig vermittelt. Dwayne, ein Bekannter von Lilach, formuliert es so:

Weißt du, früher mal dachte ich, die größte Unbekannte im Leben seien unsere Eltern. Heute meine ich, die größte Unbekannte im Leben der Menschen sind ihre Kinder.

(S. 135)

Wem gefällt’s?

Wo der Wolf lauert ist eines der Bücher, die sich schwer mit anderen vergleichen lassen. Ich empfehle es Leserinnen und Lesern, die sich für das Thema Jüdisches Leben in den USA interessieren, sich für Psychogramme begeistern können und es auf sprachlicher Ebene lieber direkt als poetisch mögen.

Judith Hermann: Daheim (S. Fischer)

Rezension von Julia Hartel

Judith Hermann: „Daheim“

Der Preis der Freiheit

So viel vorweg

Nachdem ich in den letzten Wochen lektüretechnisch gleich zweimal kräftig danebengegriffen hatte (die zugehörigen Unmutsäußerungen befinden sich am Ende dieses Beitrags), wollte ich beim nächsten Versuch auf Nummer sicher gehen. Deshalb entschied ich mich für einen Titel, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und bereits viel Lob bekommen hat: Daheim von Judith Hermann. Dass dieser Roman schon länger auf dem Markt ist als das Buch aus meinem vorigen Post, wird ja hoffentlich niemanden hier stören. 😉

Worum geht’s?

Eine 47 Jahre alte Frau versucht einen Neuanfang: Sie hat sich von ihrem Mann Otis scheiden lassen und ist ans Meer gezogen, wo ihr Bruder lebt. Dort oben, in einem baufälligen Häuschen an der nicht genauer definierten „östlichen Küste“, will sie allein sein, zu sich selbst finden und wahrscheinlich auch den Auszug ihrer erwachsenen Tochter Ann verarbeiten. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Kellnerin in der Hafenkneipe ihres Bruders. Mit Otis steht sie nach wie vor in oft wehmütigem Briefkontakt. Gleichzeitig ergeben sich bei ihr im Lauf der Zeit Beziehungen zu neuen Menschen. Wird die Heldin im Norden heimisch werden? Oder wird sie ihre mühsam errungene Freiheit über alles stellen?

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist das Buch eigen: Es geht darin viel um Gefühle; trotzdem ist es „herb“ im Ton, die Sätze sind kurz und nüchtern, die Beschreibungen zielsicher. Dazu ist eine gewisse Nachlässigkeit spürbar. Besonders die Dialoge dürften bei allen Deutschlehrern und Lektorinnen die Hand im ersten Moment reflexartig in Richtung Rotstift zucken lassen:

Was, sagte Otis manchmal zu mir, hast du Ann eigentlich beigebracht.
Ich sagte, ich habe ihr beigebracht, höflich zu sein.
Alles andere ließ ich unerwähnt. Das Schwimmen. Das Schweigen.

(S. 126)

Das ist ja nun ganz und gar nicht die Interpunktion in der wörtlichen Rede, die man in der Schule lernt, angefangen beim fehlenden Fragezeichen! Aber sie passt zu den Figuren und der Art, wie sie interagieren. Vielleicht soll auf diese Weise auch der Eindruck verstärkt werden, dass hier eine Person einfach drauflosschreibt, weil sie keinen Sinn darin sieht, nach Perfektion zu streben. Das heißt übrigens nicht, dass die Erzählerin sich nicht hin und wieder bildhaft ausdrücken würde – es wird nur eben nicht lange poliert:

In der Kneipe kann ich meinen Bruder sich selbst überlassen, ihn auf seinem Platz hinter der Kaffeemaschine alleine lassen, er sitzt auf seinem Barhocker wie ein mürber und zerrupfter Vogel, der letzte seiner Art.

(S. 77)

Warum noch toll?

Daheim ist ein leiser Roman, der tief unter die Oberfläche taucht. Er behandelt die Weggabelungen des Lebens, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, das Älterwerden, die Trauer um vergangenes Glück, die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, das Loslassen, die Unabhängigkeit und ihren Preis.

Beim Lesen tauchen Fragen auf: Wieso ist die Protagonistin nicht bei ihrem kauzigen, aber freundlichen und klugen Ehemann geblieben? Wieso strebt sie nicht nach mehr beruflicher Erfüllung? Wieso lässt sie sich mit diesem Schweinebauern ein, den sie kaum kennt? Das alles ist schwer zu verstehen, aber irgendwie schafft es die Autorin, dass sich der Weg, den ihre – übrigens namenlos bleibende – Heldin einschlägt, letztlich passend anfühlt.

Wem gefällt’s?

Menschen, die gern viel nachdenken und ein Faible für die landschaftlichen Reize Norddeutschlands haben. Ein wenig hat mich Daheim an Vom Schlafen und Verschwinden von Katharina Hagena erinnert: Auch dort reflektiert eine Ich-Erzählerin ihr bisheriges Leben und die Beziehung zu ihrer selbstständig gewordenen Tochter. Und auch dort werden in aus der Erinnerung zitierten Dialogen keine Anführungszeichen gesetzt. Möglich, dass es da bei den Zielgruppen gewisse Überschneidungen gibt. 😉

***

Ab hier wird geschimpft

Na, Hand aufs Herz: Wer ist alles gleich hierher gesprungen, ohne erst den Haupttext zu lesen? Ha, erwischt! 😀 Aber ich versteh’s ja: Gemecker liest sich amüsanter als Lob (und schreibt sich meist auch leichter). Also los:

Enttäuschung Nummer eins war Das Jahresbankett der Totengräber von Mathias Enard. Die in Westfrankreich angesiedelte Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte. Dabei ist der Clou, dass die Seelen der Figuren durch das „Große Rad“ miteinander verbunden sind und permanent als neue Lebewesen wiedergeboren werden. Als beispielsweise der Besitzer des Dorfcafés stirbt, geht seine Seele auf einen Igel über. Dieser wird überfahren und die Seele wandert weiter in eine Bettwanze, die sich am Blut des auf der Durchreise befindlichen Napoleon Bonaparte gütlich tut. Und so fort. Erzählt ist das alles meisterlich, und Enard hat über das Deux-Sèvres und die umliegenden Départments anscheinend so ziemlich alles gelesen, was je über sie geschrieben wurde. Mir war schon auch klar, dass in dem Roman vermutlich viel gestorben wird – aber auf gefühlt jeder zweiten Seite und auf derart grässliche Arten und Weisen, genüsslich bis ins Detail beschrieben?! Ich fand das Buch furchtbar und konnte es beim besten Willen nicht zu Ende lesen. Allenfalls etwas für ganz Hartgesottene!

Enttäuschung Nummer zwei habe ich zu Ende gelesen, war aber hinterher ähnlich unzufrieden. Die einsame Bodybuilderin ist eine Sammlung von Kurzgeschichten aus der Feder der in Japan sehr erfolgreichen Autorin Yukiko Motoya. In den Episoden geht es um scheinbar durchschnittliche Menschen und ihren Alltag, wobei sich die Handlung früher oder später immer ins Absurde verkehrt. Eine Ehefrau beginnt zum Beispiel, sich in ihren Mann zu verwandeln, wohingegen er seinen Menschenkörper verliert und plötzlich eine Pfingstrose wird. Recht speziell, genau. Über so was kann man bestimmt wunderbare Textanalysen schreiben, aber als Freizeitlektüre hat es mir definitiv nicht getaugt.

Kate Atkinson: Weiter Himmel (DuMont)

Rezension von Julia Hartel

Haarsträubend real

So viel vorweg

Kate Atkinson ist eine der bekanntesten britischen Schriftstellerinnen unserer Tage; trotzdem kannte ich von ihr bisher mit Die Unvollendete erst ein einziges Buch. Ihr zuletzt veröffentlichter Roman Weiter Himmel bildet den neuesten Teil ihrer Reihe um den Privatdetektiv Jackson Brodie – und ist irgendwie so ganz anders, als ich erwartet hatte.

Worum geht’s?

Um Mädchenhandel hinter der glänzenden Fassade angepassten Bürgertums. Die wichtigsten Akteure sind drei scheinbar anständige Männer, die mit ihren Familien an der malerischen englischen Ostküste leben und sich regelmäßig zu einer gepflegten Golfpartie in ihrem Club treffen. Von ihren verbrecherischen Nebentätigkeiten ahnt lange Zeit niemand etwas, bis in ihrem Bekanntenkreis ein Mord geschieht und die Polizei doch neugierig wird. Bald stellt sich heraus, dass das Geschäft der drei vor Ort eine bereits jahrzehntealte Geschichte hat, wobei ihre Vorgänger erst zum Teil gefasst und verurteilt wurden.

Der erwähnte Jackson Brodie spielt, obwohl er mit der ganzen Sache eher zufällig in Kontakt kommt, innerhalb der Ermittlungen natürlich bald eine entscheidende Rolle. Erzählt wird jedoch nicht nur aus seiner Perspektive. Vielmehr haben wir es mit extrem vielen Handlungssträngen und Charakteren zu tun, sodass es teilweise gar nicht so einfach ist, den Überblick zu behalten, wer nun wie womit und mit wem zusammenhängt.

Stilistisches et cetera

Kate Atkinson hat ganz offensichtlich eine Vorliebe für Klammern! Jedenfalls verwendet sie überdurchschnittlich häufig welche, um die Handlung mit in der Vergangenheit liegenden kurzen Dialogen, Gedanken von Figuren oder sonstigen Zusatzinformationen anzureichern:

Jackson selbst war einmal tot gewesen. Er war bei einem Zugunglück verletzt worden, und sein Herz hatte ausgesetzt. (»Kurz«, hatte der Arzt in der Notaufnahme gesagt – etwas herablassend Jacksons Ansicht nach.)

(S. 80)

Dieses „Geklammer“, das übrigens in Die Unvollendete ebenfalls zu finden ist, mag vielleicht ganz kurz gewöhnungsbedürftig sein, aber erstaunlicherweise stört es den Fluss von Atkinsons schnörkellos formulierten Sätzen weniger, als man meinen könnte. Und nicht zuletzt ist eine solche Eigenart natürlich auch etwas sehr Charakteristisches.

Beeindruckt hat mich die Erzähltechnik: Hier liegt die Besonderheit darin, dass Szenen gern mehrmals – und zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln – geschildert werden. Dadurch wird Spannung erzeugt: Man will doch wissen, wie es weitergeht! Stattdessen schubst einen die Autorin immer wieder einen Schritt rückwärts! Vor allem jedoch wird das Erzählte auf diese Weise mehrdimensionaler: Wenn man eine Situation sozusagen noch einmal aus einer anderen „Kameraperspektive“ sehen kann, werden plötzlich ganz neue Details erkennbar. Ein richtig guter Effekt!

Was ist noch toll – und was weniger?

Indem sie das Thema Mädchenhandel aufgreift, verarbeitet Atkinson nicht irgendwelche fiktiven Ideen, sondern weist auf eine haarsträubende Realität hin. Insofern fühlt sich ihre Geschichte wesentlich aktueller und relevanter an als so manch anderer Krimi-Plot – obwohl ich bekennen muss, dass ich mich als Leserin hinsichtlich solcher Verbrechen trotzdem machtlos fühle. Gerade in Anbetracht der Wahrscheinlichkeit, dass die Handelnden nach außen hin ein tadelloses Leben führen.

Wirklich kritisieren würde ich an dem Roman aber eigentlich nur die bereits angesprochene Menge an Handlungssträngen. Hier hätte man meines Erachtens durchaus noch etwas ausdünnen und dafür stärker in die Psyche einzelner Charaktere eintauchen können: Was in aller Welt kann einen denkenden Menschen dazu bringen, seinesgleichen wie einen Verkaufsgegenstand zu behandeln?! Die Männer in Weiter Himmel sind gewissenlos und gierig und hatten offenbar das, was man gemeinhin eine „schlechte Kindheit“ nennt. Aber muss da nicht noch mehr dahinterstecken? Das hätte ich gern genauer erfahren.

Alles in allem ist Atkinsons neuestes Werk – entgegen meiner Erwartung – nicht ganz so kreativ und besonders wie ihr Roman Die Unvollendete, der zudem aus meiner Sicht deutlich differenzierter gezeichnete Figuren präsentiert. Dennoch konnte mich Weiter Himmel in Anbetracht der cleveren Erzähltechnik und des ernsten Kernthemas insgesamt überzeugen.

Wem gefällt’s?

Ich wage zu behaupten, dass das Buch so ziemlich allen Fans gut erzählter Krimis gefallen müsste (sofern es auch mal ein paar Seiten mehr sein dürfen – 475 in diesem Fall ;)). Außerdem dürften sich viele von der Tatsache angesprochen fühlen, dass der Roman ohne allzu drastische Gewaltszenen auskommt.

[Vielen Dank an den DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar!]

Juli Zeh: Über Menschen (Luchterhand)

Rezension von Julia Hartel

Rückblick auf die Gegenwart

Juli Zeh: Über Menschen

So viel vorweg

Dass ich Juli Zeh mag, hat mehrere Gründe. Der Hauptgrund ist wahrscheinlich: Man weiß immer von der ersten Seite an, dass etwas Krasses passieren wird. Selbst hinter der ausführlichsten Rückblende lauert die Story, hält das Hirn in Alarmbereitschaft und lässt in Bezug auf den Ausgang absolut keine Gewissheiten aufkommen. So auch in Über Menschen.

Worum geht’s?

Deutschland im Frühling 2020. Werbetexterin Dora hat es mit ihrem Freund Robert in der gemeinsamen Berliner Wohnung nicht mehr ausgehalten. Schon vor einigen Monaten hat sie sich still und heimlich in der brandenburgischen Provinz ein altes Gutsverwalterhaus mit riesigem Grundstück gekauft. Als aus dem fanatischen Klimaschützer Robert auch noch ein ebenso fanatischer „Corona-Polizist“ geworden ist, hat sie ihre sieben Sachen und ihre Hündin Jochen [sic! :-D] zusammengepackt und ist umgezogen.

Allerdings will sich auch in der ländlichen Idylle des fiktiven Dörfchens Bracken keine Entspannung einstellen. Das hat nicht zuletzt mit Doras neuem Nachbarn Gottfried Proksch zu tun, der sich ihr mit den Worten „Ich bin hier der Dorf-Nazi“ vorstellt. Was genau sich zwischen den beiden entwickelt, sollten Interessierte unbedingt selbst lesen, aber so viel sei schon mal verraten: Eine romantische „Boy meets Girl“-Geschichte ist es nicht.

Stilistisches et cetera

In sprachlicher Hinsicht bleibt Zeh dem Stil ihrer letzten Werke treu: Der Ausdruck ist klar, jedes Wort sitzt am rechten Platz, keine Unebenheit stört den Lesefluss. Ich war wieder sofort mitten im Geschehen und konnte nur staunen, wie schnell mir die ungelesenen Seiten dünn wurden.

Sprachbilder werden sorgfältig dosiert; häufig sind sie in Naturbeschreibungen anzutreffen:

In schrägen Balken lehnt das Licht an den Kiefern; ein Greifvogel segelt lautlos zwischen den Stämmen. Es raunt und wispert. Zauberwesen.

(S. 165)

In vollen Zügen genossen habe ich Dialoge wie diesen:

»Gote«, sagt der Nachbar.
Irritiert schaut Dora zur Straße, ob sich irgendetwas nähert, das diese Bezeichnung verdient.
»Gote«, wiederholt der Nachbar nachdrücklich, als wäre Dora schwerhörig oder jedenfalls schwer von Begriff. (…)
»Westgote oder Ostgote?«, fragt Dora.
»Gote«, sagt er noch einmal. »Wie Gottfried.«
Ein bisschen fühlt sich das an wie die Kommunikation zwischen Robinson und Freitag, nur ohne zu wissen, wer Robinson und wer Freitag ist. Auch Dora hebt einen Zeigefinger und deutet auf sich selbst.
»Dora«, sagt sie. »Wie Dorf-Randlage.«

(S. 44)

Dora ist als Figur überhaupt ausgesprochen gut gelungen. Ihr Humor, ihr beständiges nervöses Reflektieren, ihr Streben nach Autonomie, ihre Zerrissenheit, ihre Sehnsucht nach Spiritualität, ihr Abscheu gegen Rechtsextremismus, ihre Suche nach Wahrheiten und die plötzliche Klarheit, mit der sie manche Dinge sieht – all das wird sehr glaubwürdig vermittelt, sodass es leichtfällt, sich mit ihr zu identifizieren. In vielem, was Zeh sie über Politik, die Gesellschaft und das Leben denken lässt, kann ich ihr nur zustimmen.

Warum noch toll?

So harmonisch und mühelos sich die Wörter und Sätze ineinanderfügen, so herausfordernd ist ihr Inhalt – auch bei diesem Prinzip bleibt sich die Autorin treu. Ohne Scheuklappen wird herausgearbeitet, wie kompliziert die Welt ist und wie schwer sich vor allem definieren lässt, wie man denn nun eigentlich „richtig“ handelt. Letztlich erweist sich die Menschlichkeit als Antwort auf viele Fragen. Eine der Schlüsselstellen für mich: Doras Erkenntnis, dass die Aussage „Ich bin besser als du“ die Wurzel allen Übels darstellt. Und zwar auch dann, wenn eine Linksliberale sie an einen Nazi richtet.

Doch noch ein Kritikpunkt …

Im Roman tauchen so ziemlich alle Aspekte und Begriffe auf, die im Zusammenhang mit Corona durch die Medien gegangen sind. Zwischendurch kam mir das etwas angestrengt vor, so als wäre beim Schreiben eine Art Checkliste abgehakt worden, um wirklich eine vollständige Chronik zu produzieren. Besonders die alleinerziehende und entsprechend erschöpfte Mutter Sadie wirkte auf mich wie einem Porträt auf Spiegel online entsprungen; hier hätte ich mir mehr Juli-Zeh-typischen Einfallsreichtum gewünscht. Aber vielleicht ist in dieser Hinsicht nur die zeitliche Nähe das Problem. Mit ein paar Jahren Abstand wird man vermutlich ein Schlagwort wie „Notbetreuung“ lesen und denken: „Ach ja, so war das damals! Gut, dass das jemand aufgeschrieben hat.“ 😉

Wem gefällt’s?

Allen, die es interessiert, wie zeitgenössische Literaturschaffende aktuelle Probleme künstlerisch verarbeiten. Juli-Zeh-Fans werden Über Menschen sowieso kennenlernen wollen. Wer unsere Corona-Gegenwart im Moment als große Belastung empfindet, sollte aber besser noch etwas mit der Lektüre warten – und das Buch eines Tages als echten Rückblick lesen.

[Vielen Dank an Penguin Random House für das Rezensionsexemplar!]

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Droemer)

Was wäre, wenn …?

Rezension von Julia Hartel

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Droemer)

So viel vorweg

Ich hätte diese Neuerscheinung so gerne in den höchsten Tönen gelobt! Der poetische Titel und der Klappentext haben mich sofort angesprochen. Leider wusste ich beim Lesen von einem viel zu frühen Zeitpunkt an, wie das Ganze ausgehen würde. Insofern mag Die Mitternachtsbibliothek ein kluger Roman sein, in dem viel Gutes steckt – so richtig begeistern konnte er mich aber nicht.

Worum geht’s?

Nora Seed ist kreuzunglücklich mit ihrem Leben. Sie hat das Gefühl, ausschließlich falsche Entscheidungen getroffen zu haben, und sieht keine Zukunftsperspektive mehr. Mit einer Überdosis Tabletten im Magen – und somit quasi auf dem Weg ins Jenseits – gelangt sie in eine Bibliothek, in der die Zeiger immer auf Mitternacht stehen. In dieser Zwischenwelt befinden sich unendlich viele Bücher: allesamt alternative Versionen von Noras Leben, die aufgrund unterschiedlicher Entscheidungen auch jeweils völlig unterschiedlich verlaufen. Nora kann so viele dieser Lebenswege ausprobieren, wie sie möchte – mit der Option, in einem der Paralleluniversen zu bleiben und endlich glücklich zu werden.

Stilistisches et cetera

Haigs Schreibe ist leicht und anschaulich, die Geschichte durchaus einfallsreich und flüssig zu lesen. Es gibt – passend zum Thema – melancholische, aber auch ein paar witzige Stellen. Die oft relativ kurzen, teils sehr kurzen Kapitel ergeben eine mustergültig aufgebaute, klassische „Hero’s Journey“: Während ihrer Heldinnenreise muss Nora konfliktträchtige Situationen bestehen und macht eine Entwicklung durch. So weit, so vorbildlich.

Wären da nicht die Minuspunkte. Das eine Problem ist die oben angesprochene Vorhersehbarkeit. Irgendwie läuft, Heldinnenreise hin oder her, insgesamt alles zu glatt, und es passiert kaum etwas Überraschendes. Vielleicht kenne ich schlichtweg doch schon zu viele Bücher, Filme und Serien, in denen die Idee „Gleiche Zeitspanne –> verschiedene Entscheidungen –> immer anderer Verlauf“ bzw. das Motiv „Paralleluniversen“ vorkommt (zwei von vielen Beispielen wären Die Unvollendete von Kate Atkinson, die ich hier zuletzt kurz erwähnt hatte, oder der Netflix-Knaller Dark). Zum anderen hat das Buch einen gewissen „therapeutischen Touch“. Und das will ich absolut nicht ins Lächerliche ziehen! Man spürt nämlich genau, dass der Autor in der Geschichte viele persönliche Einsichten verarbeitet, die ihm wichtig sind. Und wenn da solche Sachen stehen wie:

„Aber es gibt kein Leben, in dem man immer nur glücklich ist. Und wenn man sich ausmalt, es gebe so ein Leben, wird man im eigenen Leben nur umso unglücklicher“ (S. 204),

… dann ist das bestimmt wahr und richtig. Nur klingt es mir einfach zu wenig nach Roman und dafür zu sehr nach einem Ratgeber aus dem „Lebenshilfe“-Regal in der Buchhandlung.

Warum trotzdem auch toll?

Weil es etliche kleinere Ausflüge in die Philosophie und in die Quantenphysik gibt: Außer Henry David Thoreau – Noras Lieblingsphilosophen – und Erwin Schrödinger werden auch Aristoteles, Nietzsche, Camus und ein paar andere gestreift, es fallen Begriffe wie „Stringtheorie“ und „Gestaltpsychologie“. Das ist wirklich interessant, zumal Haig es schafft, die oft komplizierten Sachverhalte allgemein verständlich wiederzugeben.

Wie viel Herzblut er in den Roman investiert hat, merkt man außerdem an einigen charmanten Details. Beispielsweise beschreibt er ganz überzeugend Noras jeweiliges Körpergefühl in den einzelnen Leben: Im einen ist sie völlig untrainiert, in einem anderen besteht sie nur aus Muskeln. Lustig fand ich auch die Einfälle, sie in einem Leben nichts als Toast essen zu lassen und das Musikgeschäft, das in mehreren Episoden vorkommt, ausgerechnet „String Theory“ zu nennen. 😉

Wem gefällt’s?

Die Mitternachtsbibliothek könnte Menschen, die viel hadern und ständig in der Angst leben, etwas verpasst zu haben, hilfreiche Impulse bieten. Wer hingegen Romane bevorzugt, in denen experimentiert, mit Erwartungen gespielt und an der einen oder anderen Stelle mit Schreibkonventionen gebrochen wird, wäre wohl eher enttäuscht.

[Vielen Dank an den Droemer Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]