Buchblog

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg)

Kaum ein Wimpernschlag

Rezension von Julia Hartel

So viel vorweg

Wer die zuletzt hier vorgestellten Bücher möglicherweise ein bisschen zu düster und unerfreulich fand, darf aufatmen: Die Dame mit der bemalten Hand von Christine Wunnicke ist ganz und gar keine düstere, sondern eine ausgesprochen charmante Erzählung mit wunderbarer Botschaft. Diesmal also eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Worum geht’s?

Um den deutschen Wissenschaftler Carsten Niebuhr (1733–1815). Dieser unternahm im Auftrag der dänischen Krone eine mehrjährige „Arabische Reise“ und leistete dadurch wichtige Beiträge zur damaligen Erforschung des Orients. Angeregt hatte die Expedition der Göttinger Professor Johann David Michaelis, der auf diese Weise den Wahrheitsgehalt der Bibel empirisch überprüfen lassen wollte. Eine von Niebuhrs Reisestationen: die im Thane Creek bei Mumbai gelegene Insel Elephanta. So weit der authentische historische Hintergrund.

Christine Wunnicke lässt Niebuhr auf Elephanta dem sprachbegabten persischen Astronomen Musa al-Lahuri begegnen. Beide Männer haben die Abfahrt der Schiffe, mit denen sie auf die Insel gelangt sind, verpasst. So sitzen sie nun dort fest und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf Rettung zu warten – eine Geduldsprobe vor allem für Niebuhr, der kräftig vom „Sumpffieber“ geschüttelt wird. Doch die Gelehrten haben Glück: Die ersehnte Rettung kommt. Und am Ende gibt es dann noch einen kleinen Clou.

Stilistisches et cetera

Sprachlich finde ich Die Dame mit der bemalten Hand mehr als gelungen. Mitunter hat man tatsächlich das Gefühl, eine Geschichte aus der Zeit Goethes zu lesen, was wohl hauptsächlich auf die Verwendung heute nur noch selten gebrauchter Begriffe zurückzuführen ist („Frauenzimmer“, „zuschanden werden“, einer Person „zum Tort“ etc.). Angenehm ist dabei, dass Wunnicke es nicht übertreibt. Vielmehr bricht sie den ästhetischen und eleganten, aber eben auch leicht antiquiert anmutenden Duktus mit fabelhaft trockenem Humor immer wieder auf:

Zunächst, als er [Niebuhr] aus der ersten Ohnmacht erwacht war, hatte er noch höflich mit Musa geredet. Er heiße Nibbur und mit Rufnamen Kurdistan und stamme aus Almanya. (…) Der Bursche würde schon wissen, warum er so log. Kein Mensch hieß Nibbur und gewiss nicht in Almanya.

(S. 39)

Überhaupt ist besonders dieser Meister Musa ganz wundervoll gezeichnet: aufbrausend, doch letztlich durch und durch gütig, überaus gebildet, dabei ein ziemlicher Kauz und ein unübertroffener Geschichtenerzähler. Köstlich lesen sich zudem die vielfältigen Kommunikationsschwierigkeiten im Wirrwarr aus Arabisch, Persisch, Englisch, Deutsch, Sanskrit und anderen indischen Sprachen. Von den Inseleinwohnern Unterstützung bei der Pflege des kranken Niebuhr zu bekommen, ist beispielsweise alles andere als einfach:

»Lasst Feuerbeschaffungseile walten, oh Hundesöhne!«, schrie Musa al-Lahuri. »Opfert ein Tuchgewirk blitzgeschwind, denn ich will es betauen!« Wie er dieses Sanskrit verabscheute. Er stellte Feuer, Wasser und einen nassen Lappen mit vielen mühsamen Gesten dar.

(Ebd.)

Über so was kann ich mich ja schlapp lachen. 😀 Wie gesagt: Die Dame mit der bemalten Hand ist voll von klugem Witz. Dass es der Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, war meines Erachtens absolut gerechtfertigt.

Warum noch toll?

Weil Niebuhr und Musa so herrlich genervt voneinander sind, vieles grundverschieden sehen und sich dabei gegenseitig ein wenig belächeln, einander aber trotzdem respektieren, ja sogar irgendwie mögen. Musa steht Niebuhr während seiner Fieberschübe bei; solange der Patient sich besser fühlt und nicht gerade indische Götterbilder ausmisst, wird diskutiert – friedlich. Offensichtlich ist beiden einfach klar, dass sowieso alle Erkenntnis nur Stückwerk ist.

Das Buch zeigt also: Wenn zwei Gelehrte auf dasselbe Sternbild blicken und der eine darin Kassiopeia sieht und der andere eine mit Henna bemalte Damenhand, dann ist eins nicht richtiger oder falscher als das andere. Unter dem Sternenhimmel sind wir alle gleich, nämlich kaum ein Wimpernschlag in der Geschichte dieses Universums. Trotz unterschiedlicher Herkunft, Religion, Bildung und worüber Menschen sich sonst noch so definieren.

Schön herausgearbeitet sind übrigens auch Niebuhrs Wissensdurst und sein Interesse an fremden Kulturen, das für ihn nicht an irgendeinen Zweck gebunden ist – schon gar nicht an Michaelis’ Ehrgeiz, in den Ländern des Orients Antworten auf alle Fragen zu finden, die ihm und anderen Gelehrten beim Bibelstudium in den Sinn gekommen sind.

Wem gefällt’s?

Grundsätzlich ist Die Dame mit der bemalten Hand Balsam auf die Seelen aller, die versuchen, sich in Toleranz, Demut und Frieden zu üben. Und natürlich wird das Buch denjenigen ein besonderes Fest sein, die gern historische Romane lesen und/oder sich für Astronomie interessieren.

[Vielen Dank an den Berenberg Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Daisy Johnson: Untertauchen (btb)

Wenn das Schicksal die Fäden zieht

Rezension von Julia Hartel

Daisy Johnson: „Untertauchen“

So viel vorweg

Schon wieder keine leichte Lektüre! Aber dafür auch diesmal eine sehr interessante … Untertauchen (im britischen Original: Everything Under) hat eine besondere Ausstrahlung, ist dicht erzählt und besitzt Tiefe – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Denn abgesehen von philosophischen und psychologischen Fragen spielt darin tatsächlich auch Wasser eine wichtige Rolle.

Worum geht’s?

Das ist leider nicht wirklich spoilerfrei zu beantworten: Die Lexikografin Gretel Whiting wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter Sarah verlassen und hat sie seitdem verzweifelt gesucht. Jetzt, mit 32, hat sie sie endlich wiedergefunden. Aber zwischen den Frauen war es schon damals kompliziert, und es wird nicht besser. Sarah ist an Alzheimer erkrankt und oft aggressiv; ihre Persönlichkeit kommt ihr zusehends abhanden. Andererseits offenbart sie plötzlich bisher vertuschte Geschehnisse aus Gretels Kindheit. Diese Zeit haben Mutter und Tochter größtenteils zu zweit auf einem Hausboot verbracht – bis eines Winters Marcus zu ihnen kam … Erzählt wird all das aus verschiedenen Perspektiven, sodass man zunächst nicht so ganz durchblickt, doch dann wird von Kapitel zu Kapitel klarer: Die Geschichte ist nichts anderes als eine moderne Version des antiken Ödipus-Mythos.

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist Johnsons Roman von einer ähnlich kargen, schaurig-schönen Poesie wie die Flusslandschaft, in der er über weite Strecken spielt. Hierbei geht ein Kompliment an die Übersetzerin Birgit Pfaffinger: Sie lässt das Lesepublikum in der Tat vergessen, dass es eine Übersetzung vor sich hat. Was ich nicht so recht verstehe, ist der gelegentliche Mix verschiedener Tempora („Als ich wieder hinsah, stehst du in der niedrigen Tür, …). Das hat mich, obwohl es möglicherweise Absicht ist, beim Lesen etwas gestört.

Trotzdem: Man hört Gretel und Sarah streiten, stolpert mit Marcus am Fluss entlang, wo er dann auf die beiden trifft, man sitzt nachts bei ihm im Zelt und fürchtet sich sogar gemeinsam mit den „Flussmenschen“ ein bisschen vor dem Ungeheuer, das im Wasser lebt. Das heißt: vermutlich dort lebt. In diesem Buch ist nämlich nicht immer ganz klar, wo Traum und Einbildung aufhören und wo die Wirklichkeit anfängt.

Sprache bildet auch selbst ein zentrales Thema. So sind Sarah und Gretel durch einen eigenen Wortschatz verbunden, mit dem sie sich „von der Welt abgekapselt“ haben, wie Marcus erkennt:

„Sarah nannte Gretel El und manchmal Hänsel oder Gereutel. Gretel nannte Sarah Kumpeline oder Frau Doktor. Uffzeit hieß, dass Sarah Zeit für sich brauchte. Eine Harpiedudel war ein kleines Ärgernis wie ein heruntergefallener Teller oder ein Kratzer (…) Schwill war das Geräusch, das der Fluss nachts machte, und grär sein Geschmack am Morgen.“

(S. 220 f.)

Dass Gretel später Lexikografin wird, geschieht wohl in der Absicht, sich „echte“ Wörter zu eigen zu machen und sich so aus der immer noch ungesund nachwirkenden Symbiose mit der Mutter zu befreien (was eher schlecht als recht gelingt). Und Sarah wiederum verliert aufgrund ihrer Krankheit ihre Sprache – und damit ihre Identität.

Was gibt es noch zu sagen?

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Schicksal. Wie Ödipus und Iokaste sind die Figuren schutz- und alternativlos ihren eigenen, vorherbestimmten Handlungen ausgeliefert. Freier Wille? Nichts als Illusion.

Leider liegt für mich genau hierin ein großer Minuspunkt. Denn die zahlreichen Motive aus der Mythologie (darunter Rätselfragen, Präkognition, die Personifikation der Natur, auch der Aspekt Transsexualität) werden zwar auf reizvolle Weise neu interpretiert, und das Thema Sprache und Identität ist ein guter ergänzender Gesichtspunkt. Aber die grundlegende Prämisse ist genau die gleiche wie in der Ursprungsgeschichte: Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Abgesehen davon, ob man diese Annahme für plausibel hält, wäre hier ein neuer Impuls spannend gewesen. Dennoch ist Untertauchen ein sehr intelligentes Buch. Und am Ende strahlt sogar so etwas wie ein leiser Hoffnungsschimmer auf.

Wem gefällt’s?

Der Roman ist Menschen zu empfehlen, die Bücher mit Ecken und Kanten mögen. Wer eine Schwäche für die griechische Mythologie hat (und, damit verbunden, für leichten bis mittleren Grusel ;-)), dürfte ebenfalls Gefallen daran finden.

[Vielen Dank an die Random House GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Roman Ehrlich: Malé (S. Fischer)

Vom Paradies zum Lost Place

Rezension von Julia Hartel

„Malé“ von Roman Ehrlich.

So viel vorweg

Über Malé, das jüngste Werk von Roman Ehrlich, könnte man wahrscheinlich eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben: Stoff zum Philosophieren und Diskutieren böte es genug. Aber ich habe nun mal versprochen, mich an dieser Stelle kurzzufassen. 😉 Im Folgenden also einige aus meiner Sicht wichtige Punkte – und in dieser Vorbemerkung nur noch der Hinweis: Malé ist definitiv nix für den Mainstream-Geschmack!

Worum geht’s?

Wie der Titel verrät, geht es um Malé, die Hauptstadt der Malediven, jedoch in einer düsteren, zeitlich nicht ganz genau definierten Zukunft; evtl. sind es die frühen 2070er-Jahre. Der Meeresspiegel ist so stark angestiegen, dass die Straßen der Stadt mitunter knietief von verseuchtem und vermülltem Wasser überflutet sind. Einwohner und Touristen sind geflüchtet, gewaltbereite Milizionäre haben die Regierung gestürzt und führen nun selbst das Regiment. Wie bereits einzelne umliegende Atolle wird auch die Hauptinsel früher oder später untergehen.

Trotz alledem treffen in Malé regelmäßig Neuankömmlinge ein: Menschen, die aus den verschiedensten Gründen ihren bisherigen Lebensverhältnissen entkommen wollten oder die im einstigen Paradies nach irgendetwas auf der Suche sind. Allerdings warten hier auf die meisten Aussteigerinnen und Aussteiger neue Schwierigkeiten, unter anderem bestimmte undurchsichtige Gesetze und Hierarchien innerhalb ihrer Community, gegenseitiges Misstrauen, eine gefährliche Droge, die in der Stadt kursiert, und nicht zuletzt der Umstand, dass immer wieder Personen spurlos verschwinden.

Stilistisches et cetera

Roman Ehrlich drückt sich gern sophisticated aus, indem er lange und oft verschachtelte Sätze baut, die einem beim Lesen vollste Konzentration abverlangen. Der meiner Beobachtung nach längste Satz geht über unglaubliche eineinviertel Seiten! Das muss man natürlich mögen, aber ich persönlich finde es ausgesprochen beeindruckend.

Was die Atmosphäre angeht, kam mir mehrmals die Beschreibung „kafkaesk“ in den Sinn – alles, was passiert, wirkt bedeutungsschwer, irgendwie unwirklich und trotzdem bedrohlich. Das gilt besonders für die Szene, in der der Inselarzt vorgestellt wird. Dieser ist offenbar hauptsächlich dafür zuständig, seinen Patienten und sich selbst Ziernarben beizubringen (genau, brrr). Aber auch insgesamt hat das vergiftete, dem Untergang geweihte Malé mit seinen verfallenden Gebäuden etwas von einer Kulisse für einen bösen Traum.

Warum noch toll?

Die Ausgestiegenen auf der Insel sind vermutlich zum größten Teil Intellektuelle, die sich für wahnsinnig reflektiert halten und nicht merken, dass sie sich die meiste Zeit ausschließlich um sich selber drehen. Mir gefällt die subtile Ironie, mit der diese Selbstverliebtheit vorgeführt wird.

Wie angenehm selbstironisch im Gegensatz dazu der Autor sein kann, zeigt sich an Stellen wie dieser, an der er den Lyriker Judy Frank sagen lässt: „Romanschriftsteller sind mir suspekt. Unter denen, die noch festhalten am Schreiben, sind sie fraglos die eitelsten. Diese schreckliche Geste des Geschichtenerzählens. Wer die Welt so wahrnimmt – als einen Haufen guter Geschichten –, dem sollte man eigentlich das Schreiben verbieten.“

Ganz in diesem Sinne ist Malé aber eben auch mehr als „Haufen guter Geschichten“ – wobei die Geschichten der einzelnen Protagonisten zweifelsohne gut sind. Für mich beinhaltet das Buch vor allem eine Warnung: vor den Folgen des ignoranten, ichbezogenen Handelns des Menschen, der seinen Individualismus, seine Suche nach der „blauen Blume“ (übrigens ein wichtiges Motiv im Roman!) oder seine persönlichen Wahrheiten kompromisslos über alles andere stellt. Das ist vielleicht im ersten Moment eine potenziell unerfreuliche Botschaft, aber man muss auch bedenken: Noch ist Malé nicht untergegangen! Noch bestünde also die Chance, dass Ehrlichs Dystopie sich nicht erfüllen muss …

Wem gefällt’s?

Zunächst einmal allen, die sich Gedanken über den Klimawandel machen und die ausbeuterischen Tourismus ablehnen. Abgesehen von diesem inhaltlichen Aspekt werden diejenigen die Lektüre genießen, denen kunstvolle Satzgebilde Freude bereiten.

[Vielen Dank an die S. Fischer Verlag GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Sebastian Janata: Die Ambassadorin (Rowohlt)

Schein und Sein

Rezension von Julia Hartel

Buchcover des Romans Die Ambassadorin von Sebastian Janata.

So viel vorweg

Die Ambassadorin – schon wieder ein Debütroman – ist ein bisschen schräg. Vielleicht nicht ganz so schräg wie z. B. Indigo von Clemens J. Setz, aber auch schräg (und wer mich kennt, weiß, dass diese Kategorisierung bei mir meistens ein Kompliment ist ;-)). Die ersten allgemeinen Informationen weckten auf Anhieb meine Neugier: im Burgenland angesiedelte Handlung, aber kein beschaulicher Heimatroman. Ein Mensch mit dem Namen Sebastian Janata als Autor, aber laut Klappentext eine „Ode an das Matriarchat“. So was muss ich natürlich lesen!

Worum geht’s?

Wir befinden uns in einem scheinbar ganz normalen kleinen Dorf im Leithagebirge. Hugo, knapp 30, ist hier aufgewachsen und dann nach Berlin gezogen. Er reist nach Hause, als der Nachbar der Familie stirbt: Der alte Jäger Josef, genannt Beppo, hat sich früher viel um Hugo gekümmert, sodass dieser ihn sogar als „Großvater“ bezeichnet. Nach der Beerdigung zwingt ein Unfall der Eltern Hugo dazu, noch länger in seinem Heimatdorf zu bleiben – so unwohl und eingeengt er sich dort auch fühlt. Gleichzeitig wird ihm klar, wie wenig er eigentlich über Beppo weiß. Um die Zeit in der österreichischen Provinz möglichst sinnvoll zu nutzen, beschließt er, mehr über den Verstorbenen herauszufinden. Und er findet so einiges heraus! Schon bald wird ihm klar, dass in Bezug auf Beppo – und möglicherweise auch in Bezug auf die restliche Welt – vieles nicht so ist, wie es scheint.

Stilistisches et cetera

Janatas Schreibstil ist, passend zur Handlung, interessant. Viele Passagen sind recht sachlich gehalten, wirken fast informativ. Mitunter hätte etwas mehr Sorgfalt beim Formulieren einer Stelle vielleicht nicht geschadet, etwa in Reflexionen Hugos wie dieser: „Noch immer ist alles so stumpf. Aber irgendetwas fühlt sich anders an. Irgendwas ist passiert in mir. Ich kann nicht sagen, was. Ich kann es nur fühlen. Irgendwas.“ Aha.

Andererseits ist für Hugo das Gebäude des Musikvereins „ein Versammlungsort zur Zweckentfremdung von Musikinstrumenten durch feist-feuchte Bauernlippen, die verkrampft ihren heißen Atem in metallische Rohre pressen und selbst bei den plumpsten Heustadlstampfern oft nicht mehr zustande bringen als ein wirres Aufeinanderfolgen blecherner Flatulenzen“. Es geht also auch wesentlich kreativer! 😀

Regelrecht brillant finde ich die Überschrift des Kapitels „Sturm und Drang“. Selbiges behandelt keine literarische Epoche, sondern das Getränk „Sturm“ (hierzulande besser bekannt als „Federweißer“) sowie dessen verdauungsfördernde Eigenschaften. Ein unappetitliches Kapitel, ja. Aber zumindest absolut unvergesslich.

Warum noch toll?

Am besten hat mir der Aufbau des Romans gefallen: Von Hugo erzählte, chronologisch sortierte Kapitel wechseln sich mit Episoden aus Beppos Lebensgeschichte ab. Diese werden aus personaler Erzählperspektive geschildert und führen immer weiter in die Vergangenheit zurück. Das erzeugt beim Lesen das Gefühl, immer mehr zu erfahren, während zugleich alles immer geheimnisvoller wird.

Dabei spielt auch eine Rolle, dass der oft leicht verpeilte Hugo (der sich sympathischerweise als „schmächtigen blonden Knilch“ bezeichnet) recht gern dem Alkohol zuspricht. Dadurch werden die Recherchen nämlich nicht gerade beschleunigt – was vor allem hat ihm, verflixt noch mal, diese rätselhafte Frau Blum von früher erzählt, und was hat sie mit den beiden Frauen zu tun, die aus heiterem Himmel auf Beppos Beerdigung aufgetaucht sind? Was hat es überhaupt dauernd mit den ganzen Frauen auf sich??!!

Dank dieser Kniffe ist man durchgängig sehr gespannt, wie die Dinge letztlich zusammenhängen. Und auch wenn einem das zum Schluss gewonnene Gesamtbild möglicherweise etwas utopisch oder gar unrealistisch vorkommen mag, bleibt nach der Lektüre zumindest der Gedanke zurück: „Hm, wenn das alles wirklich so wäre, … dann wär das ja eigentlich ganz cool!“

Wem gefällt’s?

Der Roman präsentiert starke (oft weibliche) Persönlichkeiten und stellt das „Konzept Männlichkeit“ gnadenlos auf den Prüfstand. Trotzdem glaube ich nicht, dass man eine Anhängerin bzw. ein Anhänger feministischer Literatur sein muss, um es zu mögen. Vielmehr dürfte Die Ambassadorin auch all jenen gefallen, die einfach Spaß an spannenden und ein wenig abgedrehten – eben schrägen – Geschichten haben.

Jasmin Schreiber: Marianengraben (Eichborn)

Gegen die Liebe ist der Tod chancenlos

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans Marianengraben von Jasmin Schreiber

So viel vorweg

Auf Marianengraben kam ich über das Literaturnetzwerk LovelyBooks. Angesichts der vielen begeisterten Bewertungen dort dachte ich schon, der Titel würde womöglich meinem bisherigen Lieblingsbuch seinen Platz in meinen ganz persönlichen Buch-Charts streitig machen – was dann nicht passierte. Berührt hat mich Jasmin Schreibers Debütroman dennoch.

Worum geht’s?

Paula leidet an einer schweren Depression. Eigentlich sollte sie ihre Doktorarbeit in Biologie schreiben, doch vor zwei Jahren ist ihr kleiner, damals zehnjähriger Bruder Tim im Meer ertrunken. Ausgerechnet Tim, der das Meer mit all seinen Bewohnern so sehr geliebt hat. Seitdem sitzt Paula – gefühlt – auf dem Grund des elf Kilometer tiefen Marianengrabens fest, gepeinigt von Trauer und Schuldgefühlen. Eines Nachts lernt sie unter ziemlich absonderlichen Umständen einen älteren Herrn kennen: den geheimnisvollen und nicht gerade philanthropisch veranlagten Helmut. In Begleitung seiner Hündin Judy machen sich die beiden mit dem Wohnmobil auf eine außergewöhnliche Reise. Und während sie unterwegs sind, taucht Paula Stück für Stück aus ihrem Marianengraben auf.

Stilistisches et cetera

Marianengraben ist vielleicht im allerweitesten Sinne eine Art Briefroman. Zumindest richtet Paula ihre Erzählungen und Reflexionen an Tim als Gegenüber. Dabei drückt sie sich meist eher sachlich-berichtend aus; sobald sie ansatzweise poetisch wird, kommt oft auch gleich die Wissenschaftlerin mit durch: „Wir standen am Rand einer Landstraße, … und um uns herum brüllten die Rapsfelder mit ihren gelben Blüten die Stäbchen und Zapfen unserer Netzhäute an.“

Vieles ist kindgerecht formuliert, etwa wenn ein Friedhofskreuz als „ganz schön heftig verschnörkelt und verziert“ beschrieben wird oder wenn Paula in relativ schlichten Worten ihre verzweifelten Gedanken wälzt: „Was hast du gesehen, bevor du gestorben bist? Einen Fisch? Hoffentlich hast du einen Fisch gesehen. Und hoffentlich hast du nicht an mich gedacht. Bitte nicht, denn ich war nicht da, um dir zu helfen.“

Anderes wiederum hätte Paula zu ihrem lebendigen Bruder mit Sicherheit nie gesagt: „Am liebsten würde ich meine Nägel in meine Bauchdecke schlagen und sie aufreißen, mich selbst in tausend blutige Stücke zerfetzen, meinen Schädel öffnen und mein Gehirn mit einem Ruck aus meinem Kopf holen, damit ich mir das alles [gemeint ist Tims Ertrinken] endlich nie wieder vorstellen muss.“ Auch wenn der Roman in stilistischer Hinsicht nicht durchgängig gleich stark ist: An solchen Stellen läuft es einem schon kalt den Rücken hinunter. Ja, so grässlich ist Trauer. Eindrucksvoller kann man es wahrscheinlich kaum rüberbringen.

Warum noch toll?

Das Buch ist zwar ausgesprochen tiefgründig und Tod und Tränen nehmen viel Raum ein, aber es geht darin nicht nur dunkel zu. Vielmehr gibt es immer wieder lustige Stellen, die Figuren haben Humor und können sich stellenweise schief und scheckig lachen.

Paula gelangt, wie gesagt, nach und nach an die Oberfläche. Sie erkennt, dass man sich trotz möglicher Verluste ins Leben stürzen sollte, und dass der Tod gegen die Liebe letztlich keine Chance hat.

Außerdem – und das meint sogar einer wie Helmut – ist es ja „vielleicht … doch so, dass man sich wiedersieht“. Unterm Strich will die Geschichte also bei aller Schwermut auch jede Menge Hoffnung spenden. Wollte man sehr kritisch sein, könnte man allerdings fragen, ob sich am Ende nicht manche Dinge etwas zu geschmeidig fügen …

Wem gefällt’s?

Die Stimmung und der Spannungsbogen von Marianengraben haben mich ein bisschen an Morgen kommt ein neuer Himmel von Lori Nelson Spielman erinnert. Zugleich hat die Handlung einiges von einem Roadtrip – ähnlich wie Tschick von Wolfgang Herrndorf oder Töchter von Lucy Fricke. Wem diese Geschichten gefallen haben, dürfte Schreibers Buch ebenfalls mögen. Knallharten Realisten sowie frisch trauernden Menschen würde ich den Roman hingegen eher nicht empfehlen.

Leonie Swann: Mord in Sunset Hall (Goldmann)

Miss Marple lässt grüßen

Rezension von Julia Hartel

Mord in Sunset Hall von Leonie Swann

So viel vorweg

Auf Mord in Sunset Hall war ich gespannt wie ein Flitzebogen. Ich kannte von Leonie Swann nämlich bisher nur den Schafskrimi Glennkill – der in meinen Augen ein Geniestreich ist. Hier kann Swanns jüngster Kriminalroman imho nicht mithalten. Einige Stärken hat es aber dennoch, sodass ich sozusagen eine „eingeschränkte Empfehlung“ aussprechen möchte. 😉

Worum geht’s?

Es geht um eine außergewöhnliche britische Senioren-WG. Initiatorin des Wohnprojekts ist Agnes Sharp, die bei sich eine große Diskrepanz zwischen dem „Innen“ (scharfer Verstand) und dem „Außen“ (kaputte Hüfte, fragwürdige Artikulation ohne die dritten Zähne, fieser Tinnitus) wahrnimmt. Bei den meisten ihrer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im Haus „Sunset Hall“ sieht es ähnlich aus. Doch alle eint das gleiche Anliegen: im Alter selbstbestimmt zu bleiben, die Lebensfreude zu behalten und das eigene Dasein in Würde zu Ende zu bringen. Dieses Konzept scheint auch ganz gut zu funktionieren. Umso überraschender, dass WG-Genossin Lillith eines Tages mit einer Kugel im Kopf im Gartenschuppen liegt. Kurz darauf werden in der Nachbarschaft noch zwei weitere ältere Damen ums Leben gebracht. Schnell erkennt die WG-Gemeinschaft: Die Polizei ist mit den Fällen vollkommen überfordert. Und so begeben sich die sechs kauzigen Herrschaften – gern mit Schildkröte Hettie und Hund Brexit im Schlepptau – kurzerhand selbst auf Verbrecherjagd.

Stilistisches et cetera

Swann schreibt ausgesprochen frisch und witzig. So steht beispielsweise Agnes dem felligen WG-Neuzugang Brexit – vor allem eigentlich seinem Namen – anfangs recht skeptisch gegenüber: „Für sie war Brexit etwas, das Tag für Tag bis zum Abwinken im Radio stattfand. Haarig, sicher, aber nicht so haarig.“

Auch versteht sich die Autorin gut darauf, ihre Leserschaft immer mal wieder auf eine falsche Fährte zu locken. Dies tut sie, indem sie aus der Sicht verschiedener Figuren (unter anderem aus der Sicht Hetties) erzählt, wobei sich die Informationen dann aber oftmals als nicht ganz verlässlich erweisen …

Was schade ist: Teile der Handlung und einzelne Charaktere wirken etwas überzeichnet und dadurch unglaubwürdig bzw. einfach flach. Ich hatte beim Lesen mehrmals Gedanken wie: „So verhält sich doch in so einer Situation kein Mensch!“, oder: „Hm, war klar, dass das jetzt passieren würde.“ Zudem dauerte es bis sage und schreibe Seite 284, bis die erste für mich wirklich spannende Stelle kam (bei 446 Romanseiten). Mit anderen Worten: Das Buch hat Längen, und die Spannungskurve flacht leider immer wieder ab.

Warum trotzdem auch toll?

Weil Swann im Zusammenhang mit dem Thema „Lebensabend in Würde“ ebenso wichtige wie schwierige ethisch-moralische Fragen aufwirft – und ebenso klare wie kühne Antworten anbietet. Diesbezüglich wird mir Mord in Sunset Hall also definitiv länger im Gedächtnis bleiben.

Zum anderen wird es im letzten Drittel des Buches auch in psychologischer Hinsicht interessant, wenn nämlich bei Agnes plötzlich Erinnerungen an bisher Verdrängtes aufploppen, mit dem man nicht gerechnet hätte und durch das vieles in einem anderen Licht erscheint.

Und wie gesagt: Die Geschichte und der Schreibstil bringen einen durchaus zum Schmunzeln (etwa wenn sich die Damen und Herren im Salon niederlassen „wie ein sehr höflicher Schwarm Krähen“ oder wenn „laute, langbeinige Insekten … wild gestikulierend“ durch Räume schweben). Ohne meinen von Glennkill vorbelasteten Erwartungshorizont hätte ich wahrscheinlich weniger herumgemeckert.

Wem gefällt’s?

Ich persönlich habe mich bei dem leicht skurrilen Seniorentrupp mit seinem Hang zum gelegentlich makabren Humor an Miss Marple und Mister Stringer erinnert gefühlt. Dies gilt besonders für Agnes, die passenderweise vor ihrer Pensionierung als Kriminalbeamtin tätig war und sich zur Aufklärung der rätselhaften Fälle auf eine riskante „Undercover-Mission“ begibt. Miss-Marple-Fans dürften demnach bei Mord in Sunset Hall auf ihre Kosten kommen.

Anna Katharina Hahn: Aus und davon (Suhrkamp)

Wer oder was ist eine gute Mutter?

Buchbesprechung von Julia Hartel

Buchcover des Romans Aus und davon von Anna Katharina Hahn

So viel vorweg

Kürzere Tage von Anna Katharina Hahn habe ich damals verschlungen. Dieser Showdown am Ende!! Die Titel, die danach kamen, habe ich aus irgendeinem Grund ausgelassen, aber der Sogwirkung von Aus und davon bin ich nun wieder voll erlegen. Hahn schafft es wirklich, dass man ihre Figuren nicht mehr aus dem Kopf kriegt.

Worum geht’s?

Cornelia, alleinerziehende Mutter von Grundschüler Bruno und Teenie-Tochter Stella, muss dringend mal raus. Sie reist von Stuttgart nach New York und von dort aus weiter nach Meadville, Pennsylvania, wo die Mutter ihrer Mutter in den 1920er-Jahren als Dienstmädchen bei Verwandten gearbeitet hat. Um Cornelias Kinder kümmert sich derweil Oma Elisabeth. Doch die hat ein frisch gebrochenes Herz: Ihr Mann Hinz, mit dem sie seit Jahrzehnten verheiratet ist und der gerade erst einen Schlaganfall überstanden hat, hat sie verlassen. Dass Bruno wegen seiner Gewichtsprobleme in der Schule gemobbt wird und die leicht aufmüpfige Stella schon ein ausgeprägtes Interesse an Jungs zeigt, stellt „Eli-Omi“ vor zusätzliche Herausforderungen. Derweil erfährt Cornelia in Meadville Dinge über Urgroßmutter Gertrud, die sie vielleicht lieber doch nicht gewusst hätte …

Stilistisches et cetera

Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem neuen Roman aus verschiedenen Blickwinkeln: Cornelia, die ihre Reiseerlebnisse aufschreibt, tut dies in der Ich-Form. In den anderen Kapiteln wird Elisabeth und Bruno in der Sie-/Er-Form über die Schulter geschaut. Und dann ist da auch noch Gertruds alte, mit Linsen gefüllte Stoffpuppe („Linsenmaier“ genannt), dessen „Erinnerungen“ wiederum von Elisabeth niedergeschrieben werden.

In diese unterschiedlichen Rollen zu schlüpfen – inklusive Ausdrucksweise und Ton! – und sich dabei als Autorin fast vollständig zurückzunehmen, ist etwas, das Hahn meisterlich beherrscht. Insofern finde ich es auch schwierig, ihren Stil eindeutig zu beschreiben. Es ist einfach immer der Stil derjenigen Person, die gerade sprechend oder erlebend im Fokus steht. Dadurch erhalten die Figuren viel Tiefe und Authentizität. Besonders Cornelia findet oft eindrucksvolle Bilder: „Es versinkt alles in meiner Erschöpfung, wird von ihr aufgesogen, einer dunklen Masse, die ich mir schwer und warm vorstelle wie frisch angerührten Kleister. Sie füllt meine Glieder, verklebt meine Lider, stopft mich voll mit Gleichgültigkeit.“

Warum noch toll?

Weil es so leichtfällt, sich mit den Figuren zu identifizieren. Zum einen wirken sie, wie gesagt, ausgesprochen authentisch. Zum anderen ringen sie mit sehr aktuellen Problemstellungen: Was ist eine gute Mutter? Ist es legitim, auf Kosten anderer eigene Bedürfnisse durchzusetzen – und was sind die Konsequenzen? Bezogen auf Elisabeth, die unter ihrem pietistischen Erbe leidet, stellt sich die Frage: Welchen Wert hat Religion, wenn sie andererseits ein solches Potenzial besitzt, Menschen das Leben schwer zu machen? („Die Bibel liegt auf Elisabeths Zunge, sie kommt ihr zu den Ohren raus und hockt ihr schwer auf der Brust.“) Und nicht zuletzt geht es – jedenfalls implizit – um eine der wahrscheinlich ältesten Fragen der Menschheit: Was ist denn nun eigentlich Wahrheit?

An dieser Stelle sei allerdings betont, dass der Roman auf die genannten Fragen keine (letztgültigen) Antworten liefert – vermutlich, weil es nun einmal keine gibt. Auch werden manche Handlungsstränge nicht aufgelöst. Ich persönlich war deshalb kurz nach der Lektüre etwas unzufrieden, meine aber jetzt, mit etwas Abstand, dass die Geschichte gerade dadurch so glaubwürdig wirkt. Schließlich fühlt sich das wahre Leben auch oft genug irgendwie „unaufgelöst“ an.

Wem gefällt’s?

So banal es klingt, aber Aus und davon gefällt sicherlich zunächst einmal allen, denen Kürzere Tage gefallen hat. Ansonsten sei das Buch Lesebegeisterten empfohlen, die Familienromane mögen und gern ergründen, auf welche Weise und in welchem Maße unsere Vorfahrinnen und Vorfahren mitbestimmt haben, wer wir geworden sind.

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson (Suhrkamp)

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Buchbesprechung von Julia Hartel

Buchcover des Romans Herzklappen von Johnson & Johnson von Valerie Fritsch

So viel vorweg

Wer Herzklappen von Johnson & Johnson aufschlägt, sollte keine leichte Frühlings- oder Sommerlektüre erwarten. Dafür ist die Thematik, die die Österreicherin Valerie Fritsch in ihrem im Februar 2020 erschienenen Roman verarbeitet, einfach zu stark in der Realität verwurzelt. So etwas wie Unbeschwertheit gibt es darin nicht, und die Hoffnung – nun, die hat es zumindest schwer …

Worum geht’s?

Um eine unbeschreiblich große, alte Last, die über Generationen hinweg weiterwirkt. Hauptfigur Alma wächst in einem Elternhaus auf, das nur aus fadenscheinigen Kulissen zu bestehen scheint. Vater und Mutter kommen ihr vor wie Schauspieler; sie vermögen ihr keinen emotionalen Halt zu geben. Der äußerlich und innerlich vom Zweiten Weltkrieg und der Kriegsgefangenschaft in Kasachstan gezeichnete Großvater und die Großmutter tun vor allem eins: schweigen. Nach einer ersten, offenbar ebenso glücklosen wie unbedeutenden Ehe lernt Alma Friedrich kennen, mit dem sie nach einer jahrelangen Fernbeziehung zusammenzieht und einen Sohn bekommt. Dieser Sohn, Emil, wird mit einer Besonderheit geboren, die – Schätzungen zufolge – nur rund hundert Menschen weltweit aufweisen: Er kann keinen Schmerz empfinden. Unzählige Unfälle, teils aus Versehen, teils aus Übermut geschehen, haben Narben und jede Menge geflickte Knochen hinterlassen. Eine unermessliche Sorge für seine Mutter. Daneben besucht Alma nun regelmäßig die Großmutter, lässt sich von ihr von früher erzählen und merkt, wie sehr der Krieg auch ihr eigenes Leben bestimmt – nämlich fast so stark, als hätte sie ihn selbst erlebt. Nach dem Tod der Großeltern fasst Alma einen Entschluss: Sie will dem geerbten Schmerz noch weiter auf den Grund gehen. Und so macht sie sich mit ihrer kleinen Familie auf eine weite Reise.

Stilistisches et cetera

Was in Sachen Stil mit als Erstes auffällt, ist, dass es im Roman so gut wie keine wörtliche Rede gibt. Dadurch wirken die Figuren eigenartig unnahbar. Man hat das Gefühl, sie nicht richtig zu fassen zu bekommen. Doch bei genauerer Überlegung stellt man fest, wie passend das ist: Gerade Alma weiß ja selbst kaum, wer sie eigentlich ist, und es scheint ihr schwerzufallen, sich für andere Menschen zu öffnen.

Andererseits wiederum stehen die – aus personaler Erzählperspektive wiedergegebenen – Wahrnehmungen und Reflexionen der Figuren eindeutig im Zentrum des Interesses. So heißt es über den Großvater: „Auch wenn er aufrecht stand in den Frontjahren, mit zurückgespannten Schultern und erhobenem Kopf, fühlte er sich stets gebeugt, als suchte eine kleinere Figur Schutz in seiner Haut, die sich zusammenduckte, ohne jemals aufzusehen.“ Bei der Beerdigung der Großeltern fröstelt Alma, „als liefe ihr kaltes Wasser durch das Rückenmark, als wären alle Knochen Rohre mit eisiger Flüssigkeit“.

Es sind Bilder wie diese – meistens melancholisch, teils sogar schauerlich-dunkel –, mit denen Valerie Fritsch das Lebensgefühl ihrer kriegstraumatisierten, um ihr Glück betrogenen Figuren und deren Welt beschreibt. Die Autorin beweist hierbei einen geschärften Blick für Details. Dazu passt wahrscheinlich, dass sie eben nicht nur als Autorin, sondern auch als Fotografin tätig ist. Gerade bei ihren Naturbeschreibungen hat man manchmal das Gefühl, mit ihr gemeinsam durch eine Kameralinse zu blicken. Auf valeriefritsch.at werden einige ihrer ausdrucksstarken fotografischen Arbeiten präsentiert.

Warum noch toll?

Ein ganz besonderer Kunstgriff ist die Figurenkonstellation „Großvater vs. Emil“: Der alte Mann, dem es vor Schmerz quasi die Sprache verschlagen hat, bildet das Gegenstück zu seinem Enkel, der keinen Schmerz fühlen kann. Was beide verbindet, sind die reparierten Blessuren an und in ihren Körpern, sie sind „voller Ersatzteile innen drin“. In Emils Fall handelt es sich dabei um „Metallplatten, Stahldrähte und Titannägel“, im Falle des Großvaters um „metallene Herzklappen der Firma Johnson & Johnson“.

Und auch der Umstand, dass Alma so heißt, wie sie heißt, hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine tiefere Bedeutung. Denn man erfährt zwar nicht, wo genau in Kasachstan der Großvater in Kriegsgefangenschaft war, doch es liegt nahe, dass es sich hierbei um das Lager in Alma-Ata (heute Almaty) handelte. Nicht zuletzt deshalb, weil Ata Großvater bedeutet. Alma ist der Apfel. Das Sprichwort vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, ist da nur einen kleinen Gedankensprung entfernt …

Wem gefällt’s?

Leserinnen und Lesern, die sich für die Kriegsenkel-Thematik interessieren. Bereits 2013 hat Sabine Bode hierzu ein vielbeachtetes und ebenfalls sehr empfehlenswertes Sachbuch veröffentlicht (Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation, erschienen bei Klett-Cotta). Herzklappen von Johnson & Johnson bildet zu diesem Titel sozusagen die literarische Ergänzung.

Susanne Neuffer: Im Schuppen ein Mann. Erzählungen (MaroVerlag)

Spinnenbeinige Wörter und ein Zauberkleid

Buchbesprechung von Julia Hartel

Buchcover von Im Schuppen ein Mann von Susanne Neuffer

So viel vorweg

Susanne Neuffer ist gebürtige Nürnbergerin; trotzdem bin ich erst vor nicht allzu langer Zeit auf sie aufmerksam geworden, und zwar durch den Adventskalender des Deutschen Buchpreises auf Facebook. Von 1. bis 24. Dezember wurde dort wieder jeden Tag von einer anderen Person aus der schreibenden Zunft je ein Buch einer Kollegin oder eines Kollegen empfohlen. Im Schuppen ein Mann war der – in knappe Worte gekleidete – Tipp von Anke Stelling. Mein Gehirn legte gleich los: „Was für ein Mann? Und wieso im Schuppen??“ Der Titel funktionierte also schon mal. 😉 Und in der Tat fand ich auch innen jede Menge gelungener Stellen zum Anstreichen …

Worum geht’s?

Der Band ist eine Sammlung von Erzählungen, daher geht es logischerweise um viele verschiedene Themen und Charaktere. Obwohl – manches haben die Charaktere auch gemeinsam. Der Zollbeamte, der seinen ehemaligen, an Demenz erkrankten Professor bedauert, sich aber selbst an keinen Tag des Jahres 2015 erinnern kann; Jutta, die ihre Tochter an deren Arbeitsplatz in der russischen Arktis besucht und sich dort doch nur lästig fühlt; Darius, der sich auf dem Sommerfest seiner früheren Firma deplatziert vorkommt und dann auch noch merkt, dass er damals das vielleicht Wichtigste übersehen hat; nicht zuletzt der titelgebende Mann im Schuppen: Sie alle sind sich ihrer selbst nicht sicher, schlingern auf der Metaebene herum, bleiben hängen an Dingen, die unwiederbringlich zu Ende gegangen sind (bzw. gerade zu Ende gehen oder sehr bald zu Ende gehen werden). Etliche Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind darunter, Männer und Frauen, die sich über ihre erwachsenen Kinder wundern, alte 68-er, Schriftsteller und Pseudoschriftstellerinnen, Verschwörungstheoretiker. Sie sind alle ein bisschen schräg und so ziemlich das Gegenteil von oberflächlich, und womöglich kann ich einige von ihnen gerade deshalb so gut leiden. 🙂

Stilistisches et cetera

Dass die Geschichten bei allem Tiefgang nicht zu schwer werden, haben sie Susanne Neuffers leicht melancholischem Witz zu verdanken. Hier eine klitzekleine Kostprobe aus „Vorrat“, einer Miniatur über einen Abend unter Autoren: „Wir hatten gegessen, gelacht, getrunken, gelesen, geredet (…). Die Schrecken hatten sich ein wenig zurückgezogen, saßen wahrscheinlich auf den Bücherregalen rings umher und baumelten mit ihren Spinnenbeinen (der Gipfel, die Pest, die Wörter auf -ierung). Einen Abend lang waren wir uns sicher gewesen, dass es unser Beruf sei, die Schrecken zu bannen.“ Spinnenbeinige Wörter! Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas Vergleichbares gelesen zu haben. Und ähnlich tolle Ecken gibt es immer wieder. Um es also noch mal zu sagen: Sprachlich hat mich das Buch stellenweise tief beeindruckt.

Warum noch toll?

Susanne Neuffer hat ihre Geschichten zu ungleichen Teilen vier Hauptüberschriften zugeordnet: „Im Schuppen ein Mann“, „Applaus Applaus“, „Wenn das Pferd ruft“ und „Sterne unter dem Jackett“. Auch die Erzählungen selbst sind ganz unterschiedlich lang: die kürzesten nur eine oder zwei Seiten, die längste ca. 15 Seiten. Sämtliche Erzählperspektiven sind vertreten. Diese Vielfalt allein macht die Sache schon spannend. Und dann sind da eben, wie gesagt, all die verschiedenen Settings und Charaktere, bei deren Entwurf Susanne Neuffer großen Einfallsreichtum beweist.

Mein Favorit ist „Das Kleid“: Eine Künstlerin leiht sich für eine Vernissage ein viel zu edles Kleid aus und scheint sich darin plötzlich in eine andere zu verwandeln – bis am nächsten Morgen die große Verwirrung eintritt. Und „Im Schuppen ein Mann“ hat mich ebenfalls sehr in seinen Bann gezogen: Berührend, wie sich darin zwei einsame Menschen nicht sagen können, wie sehr sie einander brauchen.

Generell – und jetzt kommt doch noch so etwas Ähnliches wie leichte Kritik – gefallen mir die Erzählungen am besten, die eine Pointe oder wenigstens einen klaren (gern auch offenen!) Schluss haben. Bei manchen von ihnen scheint die Handlung hingegen ein wenig im Sande zu verlaufen oder zumindest „nirgendwo hinzuführen“. Teilweise muten sie an wie Skizzen oder wie Fragmente aus einem größeren Roman; in diesen Fällen würde man oft gern mehr über die Heldinnen oder Helden erfahren oder wissen, wie das Ganze weitergehen könnte. „Radio Vernunft“ wäre hierfür ein Beispiel: Hier wird eine eigentlich geniale Idee entwickelt, aber die Geschichte ist einfach irgendwann zu Ende. Dabei ist mir natürlich klar, dass in einer Kurzgeschichte nicht so viel Entwicklung stattfinden kann wie in einem Roman; und es ist auch klar, dass dieser Wunsch nach einer Pointe etwas sehr Subjektives ist. Es handelt sich hierbei schlichtweg um meinen persönlichen Geschmack.

Wem gefällt’s?

Diese Frage ist im Falle von Im Schuppen ein Mann relativ schwer zu beantworten. Aus meiner Sicht ist das Buch das Richtige für Leserinnen und Leser, …

  • die keine Action brauchen, sondern es lieber leise mögen,
  • die der Fassade unserer Welt nicht trauen, sondern vorzugsweise hinter die Dinge blicken,
  • für die es auch mal eine Momentaufnahme sein darf
  • und die es gut aushalten können, einen interessanten Charakter, über den sie vielleicht gern mehr erfahren hätten, schnell wieder ziehen lassen zu müssen.

Juli Zeh: Leere Herzen (Luchterhand)

Deutschland im Jahr 2025

Buchbesprechung von Julia Hartel

Buchcover des Romans Leere Herzen von Juli Zeh

So viel vorweg

In allen vier Titeln von Juli Zeh, die ich bisher gelesen habe, geht es ans Eingemachte, was mir durchaus zusagt; Leere Herzen (2017) hat mich von den vieren jedoch am meisten gefangen genommen. Vielleicht, weil die gesellschaftspolitischen Bezüge dieses Romans besonders realistisch erscheinen. Oder weil man eine solche innere Spannung in Bezug auf seine Protagonisten empfindet: Von deren Handlungen fühlt man sich einerseits abgestoßen, merkt aber andererseits, dass hier letztlich nur ein recht weit verbreiteter Gedanke konsequent ausgelebt wird – der Gedanke, dass die Kategorien Richtig und Falsch reine Illusion seien. Und so stellt man sich beim Lesen schaudernd die Frage: „Könnte es womöglich sein, dass es – heute oder in Zukunft – tatsächlich solche Menschen gibt??“

Worum geht’s?

Wir befinden uns im Jahr 2025. Britta Söldner lebt mit ihrem Mann und ihrer siebenjährigen Tochter in Braunschweig. Dass es ihr finanziell ausgezeichnet geht, hat sie dem Erfolg ihres Unternehmens zu verdanken: „Die Brücke“ heißt die Firma, die sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Babak Hamwi aufgezogen hat. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine Anlaufstelle für potenziell selbstmordgefährdete Menschen – von denen es in jener pragmatischen, in Bezug auf Werte oder gar Glauben völlig orientierungslosen und desillusionierten Gesellschaft leider eine ganze Menge gibt. Doch dass die „Brücke“ verzweifelten Klientinnen und Klienten Hilfe anbietet, ist nur die halbe Wahrheit. Und zudem bekommen Britta und Babak plötzlich (tod‑)ernst zu nehmende Konkurrenz.

Stilistisches et cetera

Juli Zeh ist schon so ein Phänomen: Als Juristin und Schriftstellerin hat sie mal eben zwei Berufe. Und das, obwohl sie in meinen Augen schon in puncto Schreiben genug Talent für zwei besitzt. Es ist fast ein bisschen gemein, was manche Leute alles können. Ihren beiden Betätigungsfeldern entsprechend verhandelt Zeh in ihren Geschichten oft grundlegende Fragen rund um Gewissen, Wahrheit, Moral, Ethik und Gesetz. Dies kam schon in Spieltrieb (2004) sehr deutlich zum Tragen. Vergleicht man übrigens diesen Roman mit Leere Herzen, kann man kaum glauben, dass sie von ein und derselben Autorin stammen sollen: Während Spieltrieb angesichts seiner ausufernden, kunstvollen, von einer auktorialen Erzählinstanz formulierten Sätze irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt, kommt Leere Herzen zumeist ausgesprochen nüchtern daher. (Böse Zungen könnten das Werk von Juli Zeh insofern als stilistisch heterogen bezeichnen; für mich persönlich ist es eher ein Beleg für ihre Vielseitigkeit. So einen Thomas-Mann-Duktus wie in Spieltrieb muss man nämlich erst mal hinkriegen!)

In Leere Herzen haben wir es mit einer personalen Erzählsituation zu tun: Berichtet wird aus dem Blickwinkel von Britta, und zwar eben sehr „auf den Punkt“, mit genau der kühlen Sachlichkeit, die diese Heldin auszeichnet. Die wenigen Ecken, an denen es poetisch wird („Die Möbel schweigen wie Partygäste, die eben noch über den Neuankömmling gesprochen haben“), wirken dabei ein wenig wie Fremdkörper. Auch das ein kluger Kunstgriff, denn Britta hat natürlich doch nicht nur diese eine, rationale Seite, auch wenn sie es selbst nicht wahrhaben will.

Warum noch toll?

In Leere Herzen wird ganz schonungslos eine beunruhigende Zukunftsvision ausgebreitet. Wie oben schon erwähnt, funktioniert das Beunruhigen vermutlich deshalb so gut, weil es sich bei den erzählten Ereignissen zwar um Science-Fiction handelt, sie aber zeitlich nicht weit weg und nicht unvorstellbar genug sind, als dass man sich wirklich davon distanzieren könnte: Deutsche Parteien wie die „BBB“ (= „Besorgte-Bürger-Bewegung“), nach dem Brexit auch noch „Frexit“, „Spexit“ und „Schwexit“ – alles keine völlig absurden Ideen, oder? Gefallen hat mir allerdings auch, dass die Geschichte nicht vollständig in der scheinbar alles bestimmenden Hoffnungslosigkeit stecken bleibt, sondern Britta ab einem bestimmten Punkt doch noch ins Nachdenken kommt.

Wem gefällt’s?

Leere Herzen dürfte grundsätzlich Fans von Politthrillern ansprechen, innerhalb dieser Gruppe in erster Linie die leicht sarkastischen Zeitgenossen – und darunter wiederum diejenigen, die allem gerechtfertigten Kulturpessimismus zum Trotz auch noch an das Gute in einzelnen Menschen glauben möchten.