Buchblog

„Welches Buch könnte ich lesen?“

Zehn Buchempfehlungen zum ersten Blog-Geburtstag

Vor genau einem Jahr habe ich die ersten beiden Beiträge in meinen damals frisch eingerichteten Buchblog geladen. Aus diesem Anlass möchte ich heute Verschiedenes nicht tun:

  • auf mehr oder weniger subtile Weise andeuten, dass Huldigungen angebracht wären,
  • mich in Selbstbeweihräucherung ergehen,
  • meine geneigten Leserinnen und Leser mit Zwischenbilanzen oder gar Sentimentalitäten wie Dankesworten langweilen,
  • meinen Beitrag mit irgendeinem verschwenderisch garnierten Muffin bebildern, in dem eine brennende Kerze steckt. 😉

Stattdessen möchte ich einlösen, was ich in meinem allerersten Posting eigentlich angekündigt hatte (und wovon ich im Lauf der Zeit zugunsten der ausschließlichen Besprechung von Neuerscheinungen abgekommen war): weitere lesenswerte Bücher der letzten Jahre vorstellen!

Hierfür habe ich zehn Romane ausgewählt, die besonders starken Eindruck bei mir hinterlassen haben, und sie einfach nach Titelnamen alphabetisch sortiert. Vielleicht findet der eine oder die andere auf diese Weise ja noch Inspiration für die nächste Buchbestellung. Viel Vergnügen beim Stöbern!

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land (Klett-Cotta)
Das fiktive Dorf Groß-Einland ist die perfekte Idylle – jedenfalls scheinbar. Denn unter der Siedlung befindet sich ein gigantischer Hohlraum, ein „Loch“, das immer mehr Gebäude und Straßen verschlingt. All das ist freilich nur eine Parabel. Im Kern verhandelt der Roman Fragen kollektiver und individueller Schuld sowie die Unmöglichkeit von Verdrängung. Beklemmend, einfallsreich und klug.

Der Distelfink von Donna Tartt

Donna Tartt: Der Distelfink (Goldmann)
Als 13-Jähriger überlebt Theo Decker einen Terroranschlag auf ein New Yorker Museum. Dabei gelangt das Gemälde „Der Distelfink“ von Carel Fabritius (1654) in seinen Besitz, das ihn fortan durchs Leben begleitet. Selten habe ich so mit einem (ziemlich tragischen) Romanhelden mitgefiebert und mitgelitten. Ein großartiges Buch mit Weltliteraturpotenzial.

Der unglaubliche Sommer des Tom Ditto von Danny Wallace

Danny Wallace: Der unglaubliche Sommer des Tom Ditto (Heyne)
Etwas leichtere Lektüre, aber auch nicht ganz ohne Tiefgang: Radiomoderator Tom Adoyo gerät in eine ungewöhnliche Selbsthilfegruppe hinein, deren Mitglieder fremde Identitäten kopieren. Obwohl Tom die Idee völlig verrückt erscheint, lässt er sich darauf ein und findet dadurch letztlich zu sich selbst. Zum Lachen und Nachdenken.

John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt (S. Fischer)
Was wäre, wenn eine Pandemie unseren Planeten durchschütteln würde??!! Der bereits 2015 unter dem Originaltitel Not Forgetting the Whale veröffentlichte Roman von John Ironmonger entwirft hierfür ein Szenario, das sich auch ohne den heute möglichen Realitätsabgleich ungeheuer spannend läse. Gänsehautgarantie!

Anita Augustin: Der Zwerg reinigt den Kittel (Ullstein)
Vier alte Damen fassen einen vermeintlich genialen Plan: Sie ziehen in eine Seniorenresidenz, beantragen Pflegestufe zwei und geben vor, auf Rundumversorgung angewiesen zu sein. Zahlen soll die Krankenkasse. Bedauerlicherweise geht die Rechnung nicht so ganz auf. Ein Buch für Leute, die es humortechnisch bisweilen etwas abgründiger mögen.

Kate Atkinson: Die Unvollendete (Droemer Knaur)
Ursula Todd stirbt und lebt anschließend ihr Leben von vorne – immer und immer wieder, aber jedes Mal ein bisschen anders. Das ist so anstrengend, wie es klingt, doch es hat auch einen ganz bestimmten Sinn und Zweck. Eine Geschichte, die mich von den ersten Seiten an gepackt hat und immer noch in mir nachhallt.

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht (KiWi)
Nach einer plötzlichen Hirnblutung kämpft sich die Schriftstellerin Helene Wesendahl ins Leben zurück. Allerdings war dieses Leben schon vorher einigermaßen kompliziert … Ein sehr berührender und sprachlich ausgezeichneter Roman, in dem auch Sprache selbst eines der Kernthemen bildet.

Mariana Leky: Erste Hilfe (Dumont)
Erste Hilfe ist der Debütroman von Mariana Leky, die zu meinen Lieblingsautorinnen gehört. Es geht darin um Freundschaft, um Liebe und um das Leben, aber das eigentlich Tolle ist sowieso Lekys Schreibstil. Wenn Was man von hier aus sehen kann nicht noch viel zauberhafter wäre, dann wäre vermutlich dieser Titel hier mein Dauerfavorit. 🙂

Juli Zeh: Unterleuten (btb)
Vielleicht hat manch jemand die Verfilmung bereits gesehen; ich selbst wollte lieber meine eigenen Bilder von Unterleuten und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern im Kopf behalten. Deren Interaktionen und das komplizierte Beziehungsgeflecht, in dem sie stecken, haben mich beim Lesen in Atem gehalten. Und dann dieser Schluss! Juli Zeh ist eine ganz Große.

Katharina Hagena: Vom Schlafen und Verschwinden (KiWi)
Eine Schlafforscherin, die nicht schlafen kann, ein Renaissance-Chor und ein düsteres Geheimnis – Katharina Hagena ist schon auch so ein Darling von mir 🙂 (siehe Das Geräusch des Lichts). Besonders ihr anmutig-schwermütiger Schreibstil mit den vielen Wortspielen hat es mir angetan. Eines der Bücher, die man gern öfter als einmal liest.

Joachim B. Schmidt: Kalmann (Diogenes)

Der beste Gammelhai in ganz Island

Rezension von Julia Hartel

„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt

So viel vorweg

Vor einigen Jahren hatte ich eine ausgeprägte „Krimi-Phase“. Meine Lieblinge damals: Simon Beckett, Henning Mankell und Peter James. Im Laufe der Zeit (das ist mir gerade bei der Beschäftigung mit der Thriller-Anthologie für den letzten Post wieder klar geworden) hat sich mein Geschmack in diesem Bereich jedoch eindeutig verändert: sozusagen weg von „klassisch“ hin zu „anders/besonders“.

Aus diesem Grund hat mich Kalmann sehr begeistert. Das Buch ist im Hinblick auf die Kernhandlung ein Krimi, trägt aber klugerweise die Bezeichnung „Roman“. Denn so gut und spannend der Krimi-Plot gestrickt ist – in der Geschichte steckt noch viel mehr. Und sie ist ziemlich „anders“!

Worum geht’s?

Kalmann Óðinsson, Haifischfänger und Jäger aus dem isländischen Dorf Raufarhöfn, findet in der Nähe des Freiluftkunstwerks Arctic Henge eine Blutlache im Schnee. Recht schnell wird klar, dass das Blut zu Róbert McKenzie gehört, der das örtliche Hotel sowie sämtliche Fischfangquoten besitzt und seit Kurzem vermisst wird. Bald wimmelt es im Dorf von Polizisten und Suchtrupps – was könnte Róbert zugestoßen sein?

Kalmann, auch „Kalli“ genannt, bereitet die ganze Sache gewaltigen Stress. Ihm ist es lieber, wenn die Dinge ihren gewohnten Gang gehen. In Raufarhöfn hat er seinen Platz, obwohl manche Menschen in ihm den „behinderten Dorftrottel“ sehen. Er weiß, dass er nicht so ist wie die meisten Leute. Aber er macht den besten Gammelhai im ganzen Land, und er kann eine genaue Karte Islands aus dem Kopf zeichnen! Außerdem hat er sich all die wichtigen Dinge gemerkt, die ihm sein Großvater über das Leben und die Jagd beigebracht hat. Ab und an ist er allerdings „irgendwie nicht ganz bei der Sache“ und ein bisschen vergesslich. Und so fragen sich nicht nur die Ermittlerin Birna und das Lesepublikum, ob die Blutlache wirklich alles war, was Kalli gesehen hat – sondern er fragt es sich auch hin und wieder selbst.

Stilistisches et cetera

Joachim B. Schmidt lässt seinen knapp 34-jährigen Helden und Ich-Erzähler zumeist relativ einfache Worte wählen:

Draußen kam ein mordsmäßiger Jeep mit Reifen so groß wie Erstklässler angebraust und hielt schaukelnd neben uns an.

(S. 85)

Manche Formulierungen sind einfach nur köstlich:

Und plötzlich erschien ich auf dem Fernsehbildschirm (…), und ich war gar nicht zufrieden. Ich guckte richtig bescheuert, als hätte ich ein warmes Spiegelei unterm Hut, und man sah auch, dass ich nicht gut drauf war, völlig genervt, misstrauisch.

(S. 125)

Nicht selten sind Kallis scheinbar schlichte Gedanken von größerer Schönheit und Weisheit als alle Äußerungen der „normalen“ Bewohner Raufarhöfns zusammen:

…, denn wir Menschen sind doch irgendwie alle gleich und gar nicht so verschieden, wie man glaubt.

(S. 330)

Der umgangssprachliche Ton findet sich freilich nicht auf allen rund 350 Seiten. Vielmehr gibt Kalmann beispielsweise in perfekter indirekter Rede Gesprächsinhalte wieder, verwendet Fremdwörter usw. Streng genommen sind solche Brüche in stilistischer Hinsicht ja nicht 100-prozentig konsequent, doch wahrscheinlich würde die Lesefreude ab irgendeinem Punkt nachlassen, hätte Schmidt die simple Ausdrucksweise von Anfang bis Ende durchgezogen.

Dass die Story so spannend daherkommt, ist übrigens fast etwas erstaunlich. Das Erzähltempo ist nämlich vergleichsweise langsam und es gibt viele Rückblenden, in denen Kalli die oft erniedrigenden Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, aber auch die liebevolle Beziehung zu seinem inzwischen teilweise dementen Großvater reflektiert. Die Überraschungsmomente sind wohl einfach clever platziert. Unter anderem erschrickt man immer mal wieder, wenn Kalli, der meist so sanftmütig wirkt, plötzlich doch seine Wut nicht mehr im Griff hat. Ausgesprochen geschickt, wie der Autor so den Verdachtsfunken im Lesergehirn am Glimmen hält …

Warum noch toll?

Ich kenne Island bisher leider nur vom Flugzeugfenster aus. Trotzdem glaube ich, dass Schmidt (der als gebürtiger Schweizer 2007 nach Island ausgewandert ist) ein überaus realitätsnahes Bild der Handlungsschauplätze zeichnet. Jedenfalls beschreibt Kalmann sein Dörfchen und dessen Architektur, die es umgebende Landschaft, die Wetter- und Lichtverhältnisse und nicht zuletzt das Meer so anschaulich, dass ich beim Lesen ein ungewöhnlich starkes Gefühl hatte, mit vor Ort zu sein.

Und dann ist da noch das oben angesprochene „Mehr“, das in Kalmann steckt und das in der Verarbeitung wichtiger Fragen besteht, zum Beispiel: Wie lässt sich der Benachteiligung von auf dem Land lebenden Menschen entgegenwirken (die sich im konkreten Fall in einer ungerechten Verteilung von Fischfangquoten äußert)? Und vor allem: Wie gehen wir, nicht zuletzt im Bildungsbereich, mit Personen mit Handicap um?

Wem gefällt’s?

Das ist in Bezug auf Kalmann gar nicht so leicht zu beantworten. Mir ist, selbst nach längerem Überlegen, kein Buch eingefallen, in dem man einen vergleichbaren Schreibstil in Kombination mit einem solchen Plot vorfinden könnte. Der Roman ist in der Tat etwas Besonderes. Aber eins ist klar: Wer Island mag, sollte ihn definitiv lesen. 🙂

[Vielen Dank an die Diogenes Verlag AG für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142 (Droemer Knaur)

Viele Handys für einen guten Zweck

Rezension von Julia Hartel

Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142

So viel vorweg

Dass kreative Betätigung dem Menschen gerade in schwierigen Zeiten gut bekommt, ist keine Neuigkeit. Ganz in diesem Sinne entwickelte der gefeierte Thriller-Autor Sebastian Fitzek die Idee, den ersten Corona-Lockdown 2020 für ein besonderes Projekt zu nutzen. Ende März lud er Schreibbegeisterte via Social Media (#wirschreibenzuhause) zu einem Wettbewerb ein. Die Aufgabe bestand darin, Kurzkrimis zu verfassen, die dann in einem gemeinsamen Band veröffentlicht werden sollten.

Eingereicht wurden unglaubliche 1.142 Geschichten, aus denen eine 30-köpfige Jury die 12 gelungensten auswählte. Mehrere etablierte Autorinnen und Autoren ergänzten die Sammlung honorarfrei um weitere Texte, sodass Identität 1142 nun 23 Short-Thriller enthält. Sämtliche Gewinne aus dem Verkauf gehen an das Sozialwerk des Deutschen Buchhandels e. V.

Worum geht’s?

Das verbindende Thema, auf das sich die gesamte Schreibgemeinschaft festlegte, lautet „Identität“. Die (bisher noch) nicht prominenten Talente verständigten sich zusätzlich auf einige weitere Motive: In den Geschichten sollte es jeweils um ein fremdes Handy gehen – und zwar nebst Fotos der Finderin bzw. des Finders im Speicher –, außerdem um ein dunkles Geheimnis sowie um Rache aus altem Schmerz.

Im Detail wurden diese inhaltlichen Vorgaben tatsächlich sehr verschieden umgesetzt. So spinnt beispielsweise Livia Fröhlich in Das Geschenk ein Ehedrama um die genannten Kernelemente, während bei Vanessa Krypczyk in Thomas die gutbürgerliche Fassade einer ehemaligen Auftragsmörderin zum Einsturz gebracht wird. Saskia Hehl begibt sich unter dem Titel Aufgelöst ins rechtsradikale Milieu, Durchleuchtet von Ursula Poznanski spielt in einem einsamen, gruseligen Krankenzimmer.

Unterm Strich kommen in Identität 1142 ziemlich viele Handys und, wenn ich ganz ehrlich bin, auch ein paar klitzekleine Logikschwächen zusammen. 😉 Aber ich kann wirklich sagen, dass die meisten Plot-Ideen super sind und dass praktisch alle Storys gegen Ende mit einer überraschenden Wendung aufwarten (was für mich immer ein großer Pluspunkt ist).

Stilistisches et cetera

Wie bei einer Anthologie kaum anders möglich, geht es in Sachen Stil kunterbunt zu. Relativ häufig trifft man natürlich auf eine „krimitypische“ Ausdrucksweise, die sich durch Schnörkellosigkeit und kurze Sätze auszeichnet:

Markus runzelte die Stirn. Die Batterie war noch fast voll. Und es gab keine Sperre. Nichts. Er sah durch die Liste der Apps. Das Handy musste neu aufgesetzt worden sein. (…) Und das Adressbuch war leer. Als er jedoch die Galerie-App öffnete, stockte ihm der Atem. Alles verlangsamte sich. Er starrte für einige Sekunden auf das Foto.

Mordechai Simons: Geburtstag in der Hölle (S. 161)

Manchmal geht es auch experimenteller zu, wie etwa hier:

Die populärste aller Märchenfiguren (…) dachte noch nicht einmal daran, dass Handys noch gar nicht existieren durften, ehe sie bereits nach dem wunderschön glänzenden Gegenstand gegriffen hatte. Die dicklichen Fingerchen hielten das schwarze Gerät ehrfürchtig, als wäre es eine Trophäe, auf die Rotkäppchen schon lange gewartet hatte.

Pia Schmidt: Ich bin Rotkäppchen (S. 182)

Und einzelne Beispiele fallen – im allerpositivsten Sinne – gestalterisch völlig aus dem Rahmen:

Der Tod entdeckte eines Tages, dass er zu lange geruht hatte. Aufgeregt eilte er hinaus in die Welt, um Menschen zu mähen. Doch die Menschen beschäftigten sich mit Gentechnologie und wollten nicht mehr sterben. (…) Nach einer Weile sah er einen Witz am Wegesrand sitzen und bittere Tränen vergießen. Da hatte er ja den rechten Gefährten gefunden. So saßen sie bald beisammen und überboten sich gegenseitig in der Tiefe ihrer Seufzer.

Frank Schätzing: Der Witz und der Tod (S. 176)

Für den einen oder die andere stecken in manchen Passagen womöglich etwas zu viel Grusel, Blut und Wahnsinn – wir haben es eben mit Short-Thrillern zu tun. Doch der Vielfalt sei Dank muss man ja in so einem Fall einfach nur zur nächsten Geschichte weiterblättern. Auch mich konnten nicht alle Storys gleichermaßen packen. Trotzdem konnte ich für mich ziemlich schnell drei klare Favoriten definieren …

Welche Geschichten sind am besten gelungen?

Recht weit oben (quasi auf Platz drei) rangiert für mich Entlang der goldenen Ähren von Robert Hönatsch, da hier die Figuren sehr überzeugend ausgearbeitet sind, wodurch die Story an Ernst und Tiefgang gewinnt. Außerdem wird darin auf eher subtile denn gewalttätige – dadurch allerdings nicht unbedingt weniger grausame – Weise Rache genommen.

Die „Silbermedaille“ würde ich dem Initiator und Herausgeber, Sebastian Fitzek, verleihen. In Niemand wird man nämlich dermaßen an der Nase herumgeführt, dass man sich fast schon ärgert, bis sich ganz am Ende alles noch mal um 180 Grad dreht! Der wahrscheinlich größte Pageturner der Sammlung.

Ausgezeichnet gefallen hat mir die Geschichte Pauls Begleiter oder Dr. Wundersitz und die nicht sehr nette Helga von Vincent Kliesch: Sie ist überaus gewandt geschrieben (wie die anderen beiden übrigens auch), auf makabre Art witzig und intelligent, steckt voller guter Ideen und bietet ebenfalls eine (fiese) Überraschung zum Schluss. Von diesem Herrn Kliesch muss ich mir definitiv mal was Längeres zum Lesen besorgen!

Wem gefällt’s?

Das ist im Falle von Identität 1142 relativ leicht zu beantworten: Fans von Thrillern! Alle, die es reizt, neben talentierten Neulingen gleich auch mehrere große Namen des Genres zwischen zwei Buchdeckeln versammelt vorzufinden (außer den bereits genannten sind auch noch Charlotte Link, Romy Hausmann und andere vertreten), sollten zuschlagen. Zumal dann, wenn sie einen guten Zweck unterstützen möchten.

[Vielen Dank an die Verlagsgruppe Droemer Knaur für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg)

Kaum ein Wimpernschlag

Rezension von Julia Hartel

So viel vorweg

Wer die zuletzt hier vorgestellten Bücher möglicherweise ein bisschen zu düster und unerfreulich fand, darf aufatmen: Die Dame mit der bemalten Hand von Christine Wunnicke ist ganz und gar keine düstere, sondern eine ausgesprochen charmante Erzählung mit wunderbarer Botschaft. Diesmal also eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Worum geht’s?

Um den deutschen Wissenschaftler Carsten Niebuhr (1733–1815). Dieser unternahm im Auftrag der dänischen Krone eine mehrjährige „Arabische Reise“ und leistete dadurch wichtige Beiträge zur damaligen Erforschung des Orients. Angeregt hatte die Expedition der Göttinger Professor Johann David Michaelis, der auf diese Weise den Wahrheitsgehalt der Bibel empirisch überprüfen lassen wollte. Eine von Niebuhrs Reisestationen: die im Thane Creek bei Mumbai gelegene Insel Elephanta. So weit der authentische historische Hintergrund.

Christine Wunnicke lässt Niebuhr auf Elephanta dem sprachbegabten persischen Astronomen Musa al-Lahuri begegnen. Beide Männer haben die Abfahrt der Schiffe, mit denen sie auf die Insel gelangt sind, verpasst. So sitzen sie nun dort fest und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als auf Rettung zu warten – eine Geduldsprobe vor allem für Niebuhr, der kräftig vom „Sumpffieber“ geschüttelt wird. Doch die Gelehrten haben Glück: Die ersehnte Rettung kommt. Und am Ende gibt es dann noch einen kleinen Clou.

Stilistisches et cetera

Sprachlich finde ich Die Dame mit der bemalten Hand mehr als gelungen. Mitunter hat man tatsächlich das Gefühl, eine Geschichte aus der Zeit Goethes zu lesen, was wohl hauptsächlich auf die Verwendung heute nur noch selten gebrauchter Begriffe zurückzuführen ist („Frauenzimmer“, „zuschanden werden“, einer Person „zum Tort“ etc.). Angenehm ist dabei, dass Wunnicke es nicht übertreibt. Vielmehr bricht sie den ästhetischen und eleganten, aber eben auch leicht antiquiert anmutenden Duktus mit fabelhaft trockenem Humor immer wieder auf:

Zunächst, als er [Niebuhr] aus der ersten Ohnmacht erwacht war, hatte er noch höflich mit Musa geredet. Er heiße Nibbur und mit Rufnamen Kurdistan und stamme aus Almanya. (…) Der Bursche würde schon wissen, warum er so log. Kein Mensch hieß Nibbur und gewiss nicht in Almanya.

(S. 39)

Überhaupt ist besonders dieser Meister Musa ganz wundervoll gezeichnet: aufbrausend, doch letztlich durch und durch gütig, überaus gebildet, dabei ein ziemlicher Kauz und ein unübertroffener Geschichtenerzähler. Köstlich lesen sich zudem die vielfältigen Kommunikationsschwierigkeiten im Wirrwarr aus Arabisch, Persisch, Englisch, Deutsch, Sanskrit und anderen indischen Sprachen. Von den Inseleinwohnern Unterstützung bei der Pflege des kranken Niebuhr zu bekommen, ist beispielsweise alles andere als einfach:

»Lasst Feuerbeschaffungseile walten, oh Hundesöhne!«, schrie Musa al-Lahuri. »Opfert ein Tuchgewirk blitzgeschwind, denn ich will es betauen!« Wie er dieses Sanskrit verabscheute. Er stellte Feuer, Wasser und einen nassen Lappen mit vielen mühsamen Gesten dar.

(Ebd.)

Über so was kann ich mich ja schlapp lachen. 😀 Wie gesagt: Die Dame mit der bemalten Hand ist voll von klugem Witz. Dass es der Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, war meines Erachtens absolut gerechtfertigt.

Warum noch toll?

Weil Niebuhr und Musa so herrlich genervt voneinander sind, vieles grundverschieden sehen und sich dabei gegenseitig ein wenig belächeln, einander aber trotzdem respektieren, ja sogar irgendwie mögen. Musa steht Niebuhr während seiner Fieberschübe bei; solange der Patient sich besser fühlt und nicht gerade indische Götterbilder ausmisst, wird diskutiert – friedlich. Offensichtlich ist beiden einfach klar, dass sowieso alle Erkenntnis nur Stückwerk ist.

Das Buch zeigt also: Wenn zwei Gelehrte auf dasselbe Sternbild blicken und der eine darin Kassiopeia sieht und der andere eine mit Henna bemalte Damenhand, dann ist eins nicht richtiger oder falscher als das andere. Unter dem Sternenhimmel sind wir alle gleich, nämlich kaum ein Wimpernschlag in der Geschichte dieses Universums. Trotz unterschiedlicher Herkunft, Religion, Bildung und worüber Menschen sich sonst noch so definieren.

Schön herausgearbeitet sind übrigens auch Niebuhrs Wissensdurst und sein Interesse an fremden Kulturen, das für ihn nicht an irgendeinen Zweck gebunden ist – schon gar nicht an Michaelis’ Ehrgeiz, in den Ländern des Orients Antworten auf alle Fragen zu finden, die ihm und anderen Gelehrten beim Bibelstudium in den Sinn gekommen sind.

Wem gefällt’s?

Grundsätzlich ist Die Dame mit der bemalten Hand Balsam auf die Seelen aller, die versuchen, sich in Toleranz, Demut und Frieden zu üben. Und natürlich wird das Buch denjenigen ein besonderes Fest sein, die gern historische Romane lesen und/oder sich für Astronomie interessieren.

[Vielen Dank an den Berenberg Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Daisy Johnson: Untertauchen (btb)

Wenn das Schicksal die Fäden zieht

Rezension von Julia Hartel

Daisy Johnson: „Untertauchen“

So viel vorweg

Schon wieder keine leichte Lektüre! Aber dafür auch diesmal eine sehr interessante … Untertauchen (im britischen Original: Everything Under) hat eine besondere Ausstrahlung, ist dicht erzählt und besitzt Tiefe – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Denn abgesehen von philosophischen und psychologischen Fragen spielt darin tatsächlich auch Wasser eine wichtige Rolle.

Worum geht’s?

Das ist leider nicht wirklich spoilerfrei zu beantworten: Die Lexikografin Gretel Whiting wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter Sarah verlassen und hat sie seitdem verzweifelt gesucht. Jetzt, mit 32, hat sie sie endlich wiedergefunden. Aber zwischen den Frauen war es schon damals kompliziert, und es wird nicht besser. Sarah ist an Alzheimer erkrankt und oft aggressiv; ihre Persönlichkeit kommt ihr zusehends abhanden. Andererseits offenbart sie plötzlich bisher vertuschte Geschehnisse aus Gretels Kindheit. Diese Zeit haben Mutter und Tochter größtenteils zu zweit auf einem Hausboot verbracht – bis eines Winters Marcus zu ihnen kam … Erzählt wird all das aus verschiedenen Perspektiven, sodass man zunächst nicht so ganz durchblickt, doch dann wird von Kapitel zu Kapitel klarer: Die Geschichte ist nichts anderes als eine moderne Version des antiken Ödipus-Mythos.

Stilistisches et cetera

Sprachlich ist Johnsons Roman von einer ähnlich kargen, schaurig-schönen Poesie wie die Flusslandschaft, in der er über weite Strecken spielt. Hierbei geht ein Kompliment an die Übersetzerin Birgit Pfaffinger: Sie lässt das Lesepublikum in der Tat vergessen, dass es eine Übersetzung vor sich hat. Was ich nicht so recht verstehe, ist der gelegentliche Mix verschiedener Tempora („Als ich wieder hinsah, stehst du in der niedrigen Tür, …). Das hat mich, obwohl es möglicherweise Absicht ist, beim Lesen etwas gestört.

Trotzdem: Man hört Gretel und Sarah streiten, stolpert mit Marcus am Fluss entlang, wo er dann auf die beiden trifft, man sitzt nachts bei ihm im Zelt und fürchtet sich sogar gemeinsam mit den „Flussmenschen“ ein bisschen vor dem Ungeheuer, das im Wasser lebt. Das heißt: vermutlich dort lebt. In diesem Buch ist nämlich nicht immer ganz klar, wo Traum und Einbildung aufhören und wo die Wirklichkeit anfängt.

Sprache bildet auch selbst ein zentrales Thema. So sind Sarah und Gretel durch einen eigenen Wortschatz verbunden, mit dem sie sich „von der Welt abgekapselt“ haben, wie Marcus erkennt:

„Sarah nannte Gretel El und manchmal Hänsel oder Gereutel. Gretel nannte Sarah Kumpeline oder Frau Doktor. Uffzeit hieß, dass Sarah Zeit für sich brauchte. Eine Harpiedudel war ein kleines Ärgernis wie ein heruntergefallener Teller oder ein Kratzer (…) Schwill war das Geräusch, das der Fluss nachts machte, und grär sein Geschmack am Morgen.“

(S. 220 f.)

Dass Gretel später Lexikografin wird, geschieht wohl in der Absicht, sich „echte“ Wörter zu eigen zu machen und sich so aus der immer noch ungesund nachwirkenden Symbiose mit der Mutter zu befreien (was eher schlecht als recht gelingt). Und Sarah wiederum verliert aufgrund ihrer Krankheit ihre Sprache – und damit ihre Identität.

Was gibt es noch zu sagen?

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Schicksal. Wie Ödipus und Iokaste sind die Figuren schutz- und alternativlos ihren eigenen, vorherbestimmten Handlungen ausgeliefert. Freier Wille? Nichts als Illusion.

Leider liegt für mich genau hierin ein großer Minuspunkt. Denn die zahlreichen Motive aus der Mythologie (darunter Rätselfragen, Präkognition, die Personifikation der Natur, auch der Aspekt Transsexualität) werden zwar auf reizvolle Weise neu interpretiert, und das Thema Sprache und Identität ist ein guter ergänzender Gesichtspunkt. Aber die grundlegende Prämisse ist genau die gleiche wie in der Ursprungsgeschichte: Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Abgesehen davon, ob man diese Annahme für plausibel hält, wäre hier ein neuer Impuls spannend gewesen. Dennoch ist Untertauchen ein sehr intelligentes Buch. Und am Ende strahlt sogar so etwas wie ein leiser Hoffnungsschimmer auf.

Wem gefällt’s?

Der Roman ist Menschen zu empfehlen, die Bücher mit Ecken und Kanten mögen. Wer eine Schwäche für die griechische Mythologie hat (und, damit verbunden, für leichten bis mittleren Grusel ;-)), dürfte ebenfalls Gefallen daran finden.

[Vielen Dank an die Random House GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Roman Ehrlich: Malé (S. Fischer)

Vom Paradies zum Lost Place

Rezension von Julia Hartel

„Malé“ von Roman Ehrlich.

So viel vorweg

Über Malé, das jüngste Werk von Roman Ehrlich, könnte man wahrscheinlich eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben: Stoff zum Philosophieren und Diskutieren böte es genug. Aber ich habe nun mal versprochen, mich an dieser Stelle kurzzufassen. 😉 Im Folgenden also einige aus meiner Sicht wichtige Punkte – und in dieser Vorbemerkung nur noch der Hinweis: Malé ist definitiv nix für den Mainstream-Geschmack!

Worum geht’s?

Wie der Titel verrät, geht es um Malé, die Hauptstadt der Malediven, jedoch in einer düsteren, zeitlich nicht ganz genau definierten Zukunft; evtl. sind es die frühen 2070er-Jahre. Der Meeresspiegel ist so stark angestiegen, dass die Straßen der Stadt mitunter knietief von verseuchtem und vermülltem Wasser überflutet sind. Einwohner und Touristen sind geflüchtet, gewaltbereite Milizionäre haben die Regierung gestürzt und führen nun selbst das Regiment. Wie bereits einzelne umliegende Atolle wird auch die Hauptinsel früher oder später untergehen.

Trotz alledem treffen in Malé regelmäßig Neuankömmlinge ein: Menschen, die aus den verschiedensten Gründen ihren bisherigen Lebensverhältnissen entkommen wollten oder die im einstigen Paradies nach irgendetwas auf der Suche sind. Allerdings warten hier auf die meisten Aussteigerinnen und Aussteiger neue Schwierigkeiten, unter anderem bestimmte undurchsichtige Gesetze und Hierarchien innerhalb ihrer Community, gegenseitiges Misstrauen, eine gefährliche Droge, die in der Stadt kursiert, und nicht zuletzt der Umstand, dass immer wieder Personen spurlos verschwinden.

Stilistisches et cetera

Roman Ehrlich drückt sich gern sophisticated aus, indem er lange und oft verschachtelte Sätze baut, die einem beim Lesen vollste Konzentration abverlangen. Der meiner Beobachtung nach längste Satz geht über unglaubliche eineinviertel Seiten! Das muss man natürlich mögen, aber ich persönlich finde es ausgesprochen beeindruckend.

Was die Atmosphäre angeht, kam mir mehrmals die Beschreibung „kafkaesk“ in den Sinn – alles, was passiert, wirkt bedeutungsschwer, irgendwie unwirklich und trotzdem bedrohlich. Das gilt besonders für die Szene, in der der Inselarzt vorgestellt wird. Dieser ist offenbar hauptsächlich dafür zuständig, seinen Patienten und sich selbst Ziernarben beizubringen (genau, brrr). Aber auch insgesamt hat das vergiftete, dem Untergang geweihte Malé mit seinen verfallenden Gebäuden etwas von einer Kulisse für einen bösen Traum.

Warum noch toll?

Die Ausgestiegenen auf der Insel sind vermutlich zum größten Teil Intellektuelle, die sich für wahnsinnig reflektiert halten und nicht merken, dass sie sich die meiste Zeit ausschließlich um sich selber drehen. Mir gefällt die subtile Ironie, mit der diese Selbstverliebtheit vorgeführt wird.

Wie angenehm selbstironisch im Gegensatz dazu der Autor sein kann, zeigt sich an Stellen wie dieser, an der er den Lyriker Judy Frank sagen lässt: „Romanschriftsteller sind mir suspekt. Unter denen, die noch festhalten am Schreiben, sind sie fraglos die eitelsten. Diese schreckliche Geste des Geschichtenerzählens. Wer die Welt so wahrnimmt – als einen Haufen guter Geschichten –, dem sollte man eigentlich das Schreiben verbieten.“

Ganz in diesem Sinne ist Malé aber eben auch mehr als „Haufen guter Geschichten“ – wobei die Geschichten der einzelnen Protagonisten zweifelsohne gut sind. Für mich beinhaltet das Buch vor allem eine Warnung: vor den Folgen des ignoranten, ichbezogenen Handelns des Menschen, der seinen Individualismus, seine Suche nach der „blauen Blume“ (übrigens ein wichtiges Motiv im Roman!) oder seine persönlichen Wahrheiten kompromisslos über alles andere stellt. Das ist vielleicht im ersten Moment eine potenziell unerfreuliche Botschaft, aber man muss auch bedenken: Noch ist Malé nicht untergegangen! Noch bestünde also die Chance, dass Ehrlichs Dystopie sich nicht erfüllen muss …

Wem gefällt’s?

Zunächst einmal allen, die sich Gedanken über den Klimawandel machen und die ausbeuterischen Tourismus ablehnen. Abgesehen von diesem inhaltlichen Aspekt werden diejenigen die Lektüre genießen, denen kunstvolle Satzgebilde Freude bereiten.

[Vielen Dank an die S. Fischer Verlag GmbH für die Zusendung des Rezensionsexemplars!]

Sebastian Janata: Die Ambassadorin (Rowohlt)

Schein und Sein

Rezension von Julia Hartel

Buchcover des Romans Die Ambassadorin von Sebastian Janata.

So viel vorweg

Die Ambassadorin – schon wieder ein Debütroman – ist ein bisschen schräg. Vielleicht nicht ganz so schräg wie z. B. Indigo von Clemens J. Setz, aber auch schräg (und wer mich kennt, weiß, dass diese Kategorisierung bei mir meistens ein Kompliment ist ;-)). Die ersten allgemeinen Informationen weckten auf Anhieb meine Neugier: im Burgenland angesiedelte Handlung, aber kein beschaulicher Heimatroman. Ein Mensch mit dem Namen Sebastian Janata als Autor, aber laut Klappentext eine „Ode an das Matriarchat“. So was muss ich natürlich lesen!

Worum geht’s?

Wir befinden uns in einem scheinbar ganz normalen kleinen Dorf im Leithagebirge. Hugo, knapp 30, ist hier aufgewachsen und dann nach Berlin gezogen. Er reist nach Hause, als der Nachbar der Familie stirbt: Der alte Jäger Josef, genannt Beppo, hat sich früher viel um Hugo gekümmert, sodass dieser ihn sogar als „Großvater“ bezeichnet. Nach der Beerdigung zwingt ein Unfall der Eltern Hugo dazu, noch länger in seinem Heimatdorf zu bleiben – so unwohl und eingeengt er sich dort auch fühlt. Gleichzeitig wird ihm klar, wie wenig er eigentlich über Beppo weiß. Um die Zeit in der österreichischen Provinz möglichst sinnvoll zu nutzen, beschließt er, mehr über den Verstorbenen herauszufinden. Und er findet so einiges heraus! Schon bald wird ihm klar, dass in Bezug auf Beppo – und möglicherweise auch in Bezug auf die restliche Welt – vieles nicht so ist, wie es scheint.

Stilistisches et cetera

Janatas Schreibstil ist, passend zur Handlung, interessant. Viele Passagen sind recht sachlich gehalten, wirken fast informativ. Mitunter hätte etwas mehr Sorgfalt beim Formulieren einer Stelle vielleicht nicht geschadet, etwa in Reflexionen Hugos wie dieser: „Noch immer ist alles so stumpf. Aber irgendetwas fühlt sich anders an. Irgendwas ist passiert in mir. Ich kann nicht sagen, was. Ich kann es nur fühlen. Irgendwas.“ Aha.

Andererseits ist für Hugo das Gebäude des Musikvereins „ein Versammlungsort zur Zweckentfremdung von Musikinstrumenten durch feist-feuchte Bauernlippen, die verkrampft ihren heißen Atem in metallische Rohre pressen und selbst bei den plumpsten Heustadlstampfern oft nicht mehr zustande bringen als ein wirres Aufeinanderfolgen blecherner Flatulenzen“. Es geht also auch wesentlich kreativer! 😀

Regelrecht brillant finde ich die Überschrift des Kapitels „Sturm und Drang“. Selbiges behandelt keine literarische Epoche, sondern das Getränk „Sturm“ (hierzulande besser bekannt als „Federweißer“) sowie dessen verdauungsfördernde Eigenschaften. Ein unappetitliches Kapitel, ja. Aber zumindest absolut unvergesslich.

Warum noch toll?

Am besten hat mir der Aufbau des Romans gefallen: Von Hugo erzählte, chronologisch sortierte Kapitel wechseln sich mit Episoden aus Beppos Lebensgeschichte ab. Diese werden aus personaler Erzählperspektive geschildert und führen immer weiter in die Vergangenheit zurück. Das erzeugt beim Lesen das Gefühl, immer mehr zu erfahren, während zugleich alles immer geheimnisvoller wird.

Dabei spielt auch eine Rolle, dass der oft leicht verpeilte Hugo (der sich sympathischerweise als „schmächtigen blonden Knilch“ bezeichnet) recht gern dem Alkohol zuspricht. Dadurch werden die Recherchen nämlich nicht gerade beschleunigt – was vor allem hat ihm, verflixt noch mal, diese rätselhafte Frau Blum von früher erzählt, und was hat sie mit den beiden Frauen zu tun, die aus heiterem Himmel auf Beppos Beerdigung aufgetaucht sind? Was hat es überhaupt dauernd mit den ganzen Frauen auf sich??!!

Dank dieser Kniffe ist man durchgängig sehr gespannt, wie die Dinge letztlich zusammenhängen. Und auch wenn einem das zum Schluss gewonnene Gesamtbild möglicherweise etwas utopisch oder gar unrealistisch vorkommen mag, bleibt nach der Lektüre zumindest der Gedanke zurück: „Hm, wenn das alles wirklich so wäre, … dann wär das ja eigentlich ganz cool!“

Wem gefällt’s?

Der Roman präsentiert starke (oft weibliche) Persönlichkeiten und stellt das „Konzept Männlichkeit“ gnadenlos auf den Prüfstand. Trotzdem glaube ich nicht, dass man eine Anhängerin bzw. ein Anhänger feministischer Literatur sein muss, um es zu mögen. Vielmehr dürfte Die Ambassadorin auch all jenen gefallen, die einfach Spaß an spannenden und ein wenig abgedrehten – eben schrägen – Geschichten haben.

Jasmin Schreiber: Marianengraben (Eichborn)

Gegen die Liebe ist der Tod chancenlos

Rezension von Julia Hartel

Cover des Romans Marianengraben von Jasmin Schreiber

So viel vorweg

Auf Marianengraben kam ich über das Literaturnetzwerk LovelyBooks. Angesichts der vielen begeisterten Bewertungen dort dachte ich schon, der Titel würde womöglich meinem bisherigen Lieblingsbuch seinen Platz in meinen ganz persönlichen Buch-Charts streitig machen – was dann nicht passierte. Berührt hat mich Jasmin Schreibers Debütroman dennoch.

Worum geht’s?

Paula leidet an einer schweren Depression. Eigentlich sollte sie ihre Doktorarbeit in Biologie schreiben, doch vor zwei Jahren ist ihr kleiner, damals zehnjähriger Bruder Tim im Meer ertrunken. Ausgerechnet Tim, der das Meer mit all seinen Bewohnern so sehr geliebt hat. Seitdem sitzt Paula – gefühlt – auf dem Grund des elf Kilometer tiefen Marianengrabens fest, gepeinigt von Trauer und Schuldgefühlen. Eines Nachts lernt sie unter ziemlich absonderlichen Umständen einen älteren Herrn kennen: den geheimnisvollen und nicht gerade philanthropisch veranlagten Helmut. In Begleitung seiner Hündin Judy machen sich die beiden mit dem Wohnmobil auf eine außergewöhnliche Reise. Und während sie unterwegs sind, taucht Paula Stück für Stück aus ihrem Marianengraben auf.

Stilistisches et cetera

Marianengraben ist vielleicht im allerweitesten Sinne eine Art Briefroman. Zumindest richtet Paula ihre Erzählungen und Reflexionen an Tim als Gegenüber. Dabei drückt sie sich meist eher sachlich-berichtend aus; sobald sie ansatzweise poetisch wird, kommt oft auch gleich die Wissenschaftlerin mit durch: „Wir standen am Rand einer Landstraße, … und um uns herum brüllten die Rapsfelder mit ihren gelben Blüten die Stäbchen und Zapfen unserer Netzhäute an.“

Vieles ist kindgerecht formuliert, etwa wenn ein Friedhofskreuz als „ganz schön heftig verschnörkelt und verziert“ beschrieben wird oder wenn Paula in relativ schlichten Worten ihre verzweifelten Gedanken wälzt: „Was hast du gesehen, bevor du gestorben bist? Einen Fisch? Hoffentlich hast du einen Fisch gesehen. Und hoffentlich hast du nicht an mich gedacht. Bitte nicht, denn ich war nicht da, um dir zu helfen.“

Anderes wiederum hätte Paula zu ihrem lebendigen Bruder mit Sicherheit nie gesagt: „Am liebsten würde ich meine Nägel in meine Bauchdecke schlagen und sie aufreißen, mich selbst in tausend blutige Stücke zerfetzen, meinen Schädel öffnen und mein Gehirn mit einem Ruck aus meinem Kopf holen, damit ich mir das alles [gemeint ist Tims Ertrinken] endlich nie wieder vorstellen muss.“ Auch wenn der Roman in stilistischer Hinsicht nicht durchgängig gleich stark ist: An solchen Stellen läuft es einem schon kalt den Rücken hinunter. Ja, so grässlich ist Trauer. Eindrucksvoller kann man es wahrscheinlich kaum rüberbringen.

Warum noch toll?

Das Buch ist zwar ausgesprochen tiefgründig und Tod und Tränen nehmen viel Raum ein, aber es geht darin nicht nur dunkel zu. Vielmehr gibt es immer wieder lustige Stellen, die Figuren haben Humor und können sich stellenweise schief und scheckig lachen.

Paula gelangt, wie gesagt, nach und nach an die Oberfläche. Sie erkennt, dass man sich trotz möglicher Verluste ins Leben stürzen sollte, und dass der Tod gegen die Liebe letztlich keine Chance hat.

Außerdem – und das meint sogar einer wie Helmut – ist es ja „vielleicht … doch so, dass man sich wiedersieht“. Unterm Strich will die Geschichte also bei aller Schwermut auch jede Menge Hoffnung spenden. Wollte man sehr kritisch sein, könnte man allerdings fragen, ob sich am Ende nicht manche Dinge etwas zu geschmeidig fügen …

Wem gefällt’s?

Die Stimmung und der Spannungsbogen von Marianengraben haben mich ein bisschen an Morgen kommt ein neuer Himmel von Lori Nelson Spielman erinnert. Zugleich hat die Handlung einiges von einem Roadtrip – ähnlich wie Tschick von Wolfgang Herrndorf oder Töchter von Lucy Fricke. Wem diese Geschichten gefallen haben, dürfte Schreibers Buch ebenfalls mögen. Knallharten Realisten sowie frisch trauernden Menschen würde ich den Roman hingegen eher nicht empfehlen.

Leonie Swann: Mord in Sunset Hall (Goldmann)

Miss Marple lässt grüßen

Rezension von Julia Hartel

Mord in Sunset Hall von Leonie Swann

So viel vorweg

Auf Mord in Sunset Hall war ich gespannt wie ein Flitzebogen. Ich kannte von Leonie Swann nämlich bisher nur den Schafskrimi Glennkill – der in meinen Augen ein Geniestreich ist. Hier kann Swanns jüngster Kriminalroman imho nicht mithalten. Einige Stärken hat es aber dennoch, sodass ich sozusagen eine „eingeschränkte Empfehlung“ aussprechen möchte. 😉

Worum geht’s?

Es geht um eine außergewöhnliche britische Senioren-WG. Initiatorin des Wohnprojekts ist Agnes Sharp, die bei sich eine große Diskrepanz zwischen dem „Innen“ (scharfer Verstand) und dem „Außen“ (kaputte Hüfte, fragwürdige Artikulation ohne die dritten Zähne, fieser Tinnitus) wahrnimmt. Bei den meisten ihrer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im Haus „Sunset Hall“ sieht es ähnlich aus. Doch alle eint das gleiche Anliegen: im Alter selbstbestimmt zu bleiben, die Lebensfreude zu behalten und das eigene Dasein in Würde zu Ende zu bringen. Dieses Konzept scheint auch ganz gut zu funktionieren. Umso überraschender, dass WG-Genossin Lillith eines Tages mit einer Kugel im Kopf im Gartenschuppen liegt. Kurz darauf werden in der Nachbarschaft noch zwei weitere ältere Damen ums Leben gebracht. Schnell erkennt die WG-Gemeinschaft: Die Polizei ist mit den Fällen vollkommen überfordert. Und so begeben sich die sechs kauzigen Herrschaften – gern mit Schildkröte Hettie und Hund Brexit im Schlepptau – kurzerhand selbst auf Verbrecherjagd.

Stilistisches et cetera

Swann schreibt ausgesprochen frisch und witzig. So steht beispielsweise Agnes dem felligen WG-Neuzugang Brexit – vor allem eigentlich seinem Namen – anfangs recht skeptisch gegenüber: „Für sie war Brexit etwas, das Tag für Tag bis zum Abwinken im Radio stattfand. Haarig, sicher, aber nicht so haarig.“

Auch versteht sich die Autorin gut darauf, ihre Leserschaft immer mal wieder auf eine falsche Fährte zu locken. Dies tut sie, indem sie aus der Sicht verschiedener Figuren (unter anderem aus der Sicht Hetties) erzählt, wobei sich die Informationen dann aber oftmals als nicht ganz verlässlich erweisen …

Was schade ist: Teile der Handlung und einzelne Charaktere wirken etwas überzeichnet und dadurch unglaubwürdig bzw. einfach flach. Ich hatte beim Lesen mehrmals Gedanken wie: „So verhält sich doch in so einer Situation kein Mensch!“, oder: „Hm, war klar, dass das jetzt passieren würde.“ Zudem dauerte es bis sage und schreibe Seite 284, bis die erste für mich wirklich spannende Stelle kam (bei 446 Romanseiten). Mit anderen Worten: Das Buch hat Längen, und die Spannungskurve flacht leider immer wieder ab.

Warum trotzdem auch toll?

Weil Swann im Zusammenhang mit dem Thema „Lebensabend in Würde“ ebenso wichtige wie schwierige ethisch-moralische Fragen aufwirft – und ebenso klare wie kühne Antworten anbietet. Diesbezüglich wird mir Mord in Sunset Hall also definitiv länger im Gedächtnis bleiben.

Zum anderen wird es im letzten Drittel des Buches auch in psychologischer Hinsicht interessant, wenn nämlich bei Agnes plötzlich Erinnerungen an bisher Verdrängtes aufploppen, mit dem man nicht gerechnet hätte und durch das vieles in einem anderen Licht erscheint.

Und wie gesagt: Die Geschichte und der Schreibstil bringen einen durchaus zum Schmunzeln (etwa wenn sich die Damen und Herren im Salon niederlassen „wie ein sehr höflicher Schwarm Krähen“ oder wenn „laute, langbeinige Insekten … wild gestikulierend“ durch Räume schweben). Ohne meinen von Glennkill vorbelasteten Erwartungshorizont hätte ich wahrscheinlich weniger herumgemeckert.

Wem gefällt’s?

Ich persönlich habe mich bei dem leicht skurrilen Seniorentrupp mit seinem Hang zum gelegentlich makabren Humor an Miss Marple und Mister Stringer erinnert gefühlt. Dies gilt besonders für Agnes, die passenderweise vor ihrer Pensionierung als Kriminalbeamtin tätig war und sich zur Aufklärung der rätselhaften Fälle auf eine riskante „Undercover-Mission“ begibt. Miss-Marple-Fans dürften demnach bei Mord in Sunset Hall auf ihre Kosten kommen.

Anna Katharina Hahn: Aus und davon (Suhrkamp)

Wer oder was ist eine gute Mutter?

Buchcover Aus und davon_Anna Katharina Hahn

Buchbesprechung von Julia Hartel

So viel vorweg

Kürzere Tage von Anna Katharina Hahn habe ich damals verschlungen. Dieser Showdown am Ende!! Die Titel, die danach kamen, habe ich aus irgendeinem Grund ausgelassen, aber der Sogwirkung von Aus und davon bin ich nun wieder voll erlegen. Hahn schafft es wirklich, dass man ihre Figuren nicht mehr aus dem Kopf kriegt.

Worum geht’s?

Cornelia, alleinerziehende Mutter von Grundschüler Bruno und Teenie-Tochter Stella, muss dringend mal raus. Sie reist von Stuttgart nach New York und von dort aus weiter nach Meadville, Pennsylvania, wo die Mutter ihrer Mutter in den 1920er-Jahren als Dienstmädchen bei Verwandten gearbeitet hat. Um Cornelias Kinder kümmert sich derweil Oma Elisabeth. Doch die hat ein frisch gebrochenes Herz: Ihr Mann Hinz, mit dem sie seit Jahrzehnten verheiratet ist und der gerade erst einen Schlaganfall überstanden hat, hat sie verlassen. Dass Bruno wegen seiner Gewichtsprobleme in der Schule gemobbt wird und die leicht aufmüpfige Stella schon ein ausgeprägtes Interesse an Jungs zeigt, stellt „Eli-Omi“ vor zusätzliche Herausforderungen. Derweil erfährt Cornelia in Meadville Dinge über Urgroßmutter Gertrud, die sie vielleicht lieber doch nicht gewusst hätte …

Stilistisches et cetera

Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem neuen Roman aus verschiedenen Blickwinkeln: Cornelia, die ihre Reiseerlebnisse aufschreibt, tut dies in der Ich-Form. In den anderen Kapiteln wird Elisabeth und Bruno in der Sie-/Er-Form über die Schulter geschaut. Und dann ist da auch noch Gertruds alte, mit Linsen gefüllte Stoffpuppe („Linsenmaier“ genannt), dessen „Erinnerungen“ wiederum von Elisabeth niedergeschrieben werden.

In diese unterschiedlichen Rollen zu schlüpfen – inklusive Ausdrucksweise und Ton! – und sich dabei als Autorin fast vollständig zurückzunehmen, ist etwas, das Hahn meisterlich beherrscht. Insofern finde ich es auch schwierig, ihren Stil eindeutig zu beschreiben. Es ist einfach immer der Stil derjenigen Person, die gerade sprechend oder erlebend im Fokus steht. Dadurch erhalten die Figuren viel Tiefe und Authentizität. Besonders Cornelia findet oft eindrucksvolle Bilder: „Es versinkt alles in meiner Erschöpfung, wird von ihr aufgesogen, einer dunklen Masse, die ich mir schwer und warm vorstelle wie frisch angerührten Kleister. Sie füllt meine Glieder, verklebt meine Lider, stopft mich voll mit Gleichgültigkeit.“

Warum noch toll?

Weil es so leichtfällt, sich mit den Figuren zu identifizieren. Zum einen wirken sie, wie gesagt, ausgesprochen authentisch. Zum anderen ringen sie mit sehr aktuellen Problemstellungen: Was ist eine gute Mutter? Ist es legitim, auf Kosten anderer eigene Bedürfnisse durchzusetzen – und was sind die Konsequenzen? Bezogen auf Elisabeth, die unter ihrem pietistischen Erbe leidet, stellt sich die Frage: Welchen Wert hat Religion, wenn sie andererseits ein solches Potenzial besitzt, Menschen das Leben schwer zu machen? („Die Bibel liegt auf Elisabeths Zunge, sie kommt ihr zu den Ohren raus und hockt ihr schwer auf der Brust.“) Und nicht zuletzt geht es – jedenfalls implizit – um eine der wahrscheinlich ältesten Fragen der Menschheit: Was ist denn nun eigentlich Wahrheit?

An dieser Stelle sei allerdings betont, dass der Roman auf die genannten Fragen keine (letztgültigen) Antworten liefert – vermutlich, weil es nun einmal keine gibt. Auch werden manche Handlungsstränge nicht aufgelöst. Ich persönlich war deshalb kurz nach der Lektüre etwas unzufrieden, meine aber jetzt, mit etwas Abstand, dass die Geschichte gerade dadurch so glaubwürdig wirkt. Schließlich fühlt sich das wahre Leben auch oft genug irgendwie „unaufgelöst“ an.

Wem gefällt’s?

So banal es klingt, aber Aus und davon gefällt sicherlich zunächst einmal allen, denen Kürzere Tage gefallen hat. Ansonsten sei das Buch Lesebegeisterten empfohlen, die Familienromane mögen und gern ergründen, auf welche Weise und in welchem Maße unsere Vorfahrinnen und Vorfahren mitbestimmt haben, wer wir geworden sind.